Handy-Antennen: Städte ziehen die Notbremse
saldo hat die Strahlung von Handy-Antennen in drei Schweizer Städten gemessen. Die Elektrosmog-Belastung erreicht zum Teil bedenkliche Werte.
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saldo 1/2003
22.01.2003
Mike Weibel
Seit vier Jahren schlafen Ernst und Viviane Kuster (Namen geändert) im Keller ihres Hauses in Thalwil ZH. «Dort unten», sagt Frau Kuster, «ist es weniger schlimm.» Seit 1997 leidet Viviane Kuster unter Schwindelanfällen, Kopfweh und Schlafstörungen. Ärzte fanden keine Ursache - Medikamente halfen nicht. Vor zwei Jahren stellte ein Labor fest: Bei Kusters fehlt das Melatonin im Blut. Dieses Hormon fördert den Schlaf und soll vor Krebs schützen.
Strahlenpegel: Zehn...
Seit vier Jahren schlafen Ernst und Viviane Kuster (Namen geändert) im Keller ihres Hauses in Thalwil ZH. «Dort unten», sagt Frau Kuster, «ist es weniger schlimm.» Seit 1997 leidet Viviane Kuster unter Schwindelanfällen, Kopfweh und Schlafstörungen. Ärzte fanden keine Ursache - Medikamente halfen nicht. Vor zwei Jahren stellte ein Labor fest: Bei Kusters fehlt das Melatonin im Blut. Dieses Hormon fördert den Schlaf und soll vor Krebs schützen.
Strahlenpegel: Zehnmal höher als vor 20 Jahren
308 ähnliche Krankengeschichten hat Viviane Kuster allein in ihrer Gemeinde gesammelt. Schuld, sagt das Ehepaar, seien eindeutig die seit 1996 aufgebauten Handy-Antennen in der Nachbarschaft. Seither kommen auch keine Vögel mehr zum Vogelhäuschen.
Laut Experten hat sich der Strahlenpegel in den letzten 20 Jahren verzehnfacht. Heute senden in der Schweiz 29 362 Antennen an 8200 Standorten rund um die Uhr Handy-Signale aus. Und der Antennenwald wird laufend aufgeforstet: Zu den bestehenden GSM-Netzen bauen Swisscom, Sunrise und Orange nun die ultraschnellen UMTS-Dienste auf.
Doch wie stehts um den durch Handy-Antennen verursachten Elektrosmog? Im Auftrag von saldo mass die MPA Engineering AG aus Illnau ZH die Strahlenbelastung in den Regionen Basel, Bern und Zürich auf öffentlichen Plätzen. Zudem wurden Standorte im Einflussbereich von Antennen gewählt, wo sich empfindliche Personen wie Kinder, Kranke oder alte Menschen aufhalten.
Den höchsten Wert mass saldo auf der Dachterrasse eines Basler Blindenheims. Dort registrierte Messexperte Josef Peter 2,18 Volt/Meter (V/m). Die meisten von saldo gemessenen Werte (siehe Grafik, gelbe Säulen) liegen zwischen 0,4 und 1,7 V/m.
Anlagegrenzwerte: Ohne medizinischen Hintergrund
Hochgerechnet auf die maximale Antennenleistung ergibt die Messung im Basler Heim 5,45 V/m. Das Ergebnis liegt im Bereich der Anlagegrenzwerte, die zwischen 4 und 6 V/m betragen. Doch die müssen laut Schweizer Verordnung nur in Wohn- und Arbeitsräumen, Schulen, Spitälern, Heimen und auf öffentlichen Spielplätzen eingehalten werden. Für Terrassen, Balkone und alle anderen Orte sind die rund zehnmal höheren Immissionsgrenzwerte massgebend. Das gilt auch für die Dachterrasse des Blindenheims.
Die Immissions- und Anlagegrenzwerte sagen aber nichts über die gesundheitliche Gefährdung von Mensch und Tier aus. Die Werte basieren nicht auf medizinischen Kriterien, sondern auf der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit, wie sie die Mobilfunkindustrie vorrechnet. Mirjana Moser, Sektionsleiterin beim Bundesamt für Gesundheit (BAG): «Da wir die Gesundheitsrisiken nicht kennen, soll die Strahlung einfach so schwach wie möglich sein.»
Deutlich unter den Schweizer Grenzwerten liegt die Empfehlung der Universität Valencia: Sie befragte 560 Personen und stellte einen klaren Zusammenhang zwischen Strahlung und gesundheitlichen Beschwerden fest. Die Spanier raten heute zu einem Höchstwert von 0,61 V/m in Wohn- und Arbeitsräumen.
Gesundheitsrisiko: Ärzte verlangen tiefere Grenzwerte
Der Salzburger Umweltmediziner Gerd Oberfeld geht noch weiter. Bis vor kurzem galt in der österreichischen Stadt ein Vorsorgewert von 0,6 V/m im Freien - ein Zehntel des Schweizer Grenzwertes für Innenräume. Dieser Empfehlung hatte sich auch die Schweizer Ärztevereinigung FMH angeschlossen. Nun fordert die Salzburger Landessanitätsdirektion einen Grenzwert von 0,06 V/m für Aussenplätze und 0,02 V/m für Innenräume. Für Oberfeld ist klar: «Die Wirkungsschwelle liegt bei empfindlichen Personen noch tiefer.»
Die deutsche Ärztevereinigung Interdisziplinäre Gesellschaft für Umweltmedizin (Igumed) beobachtet «einen dramatischen Anstieg schwerer und chronischer Erkrankungen wie Lern-, Konzentrations- und Verhaltensstörungen, Schlaganfälle, Herzinfarkte, Blutdruckentgleisungen und Herzrhythmusstörungen immer jüngerer Menschen»; dazu Kopfschmerzen, Migräne, chronische Erschöpfung, innere Unruhe, Schlaflosigkeit, Ohrengeräusche. Die Ärzte sehen sie in «einem deutlichen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einer Funkbelastung»
Basel und Zürich: Vorläufiger Antennenstopp
Nun fordern die Umweltmediziner Massnahmen: Sie wollen die Strahlung nicht nur aus Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen verbannen, sondern auch aus öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln. Die Grenzwerte sollen so weit abgesenkt werden, dass Handys nur noch draussen Signale empfangen können.
In der Schweiz ziehen zwei Städte bereits die Notbremse: In Basel gilt seit letztem November auf allen Gebäuden der Stadt ein Antennenstopp. Mit einem verbesserten Netz aus schwächeren Antennen soll später die Belastung der Bevölkerung reduziert und Schulhäuser sowie Spitäler zu antennenfreien Zonen werden. Die Zürcher Regierung lässt auf ihren Liegenschaften ebenfalls keine Antennen mehr zu, die auf Schulhäuser, Altersheime oder Spielplätze strahlen.
Betroffene: Ohne Hilfe von den Behörden
Auch das BAG bearbeitet das Dossier Elektrosmog. Mit einem zwanzigseitigen Fragebogen sammelte es Beschwerden von Betroffenen. 342 von 462 Fragebogen sind bisher ausgewertet. Neben den typischen Symptomen stimmen die Betroffenen vor allem in einem Punkt überein: Von den Behörden erhielten sie keine brauchbare Hilfe.
So wurde getestet
Die saldo-Messungen folgten den Richtlinien des Bundesamtes für Umwelt (Buwal). Mit einer Breitbandsonde wurde zuerst das Raummaximum von elektromagnetischen Feldern zwischen 0,1 und 3000 Megahertz ermittelt. Die Zweitmessung tastete den Frequenzbereich von 700 bis 3000 Megahertz ab, in dem Handy-Antennen senden. Da weder Swisscom, Sunrise noch Orange die aktuellen Betriebsdaten ihrer Antennen zum Messzeitpunkt preisgeben wollten, rechnete saldo den Messwert mit den typischen Faktoren zum Beurteilungswert hoch. Dieser darf an Orten mit empfindlicher Nutzung den Anlagegrenzwert nicht überschreiten.
Hochfrequente Strahlung
Die Umwelt wird von natürlichen und technisch produzierten elektrischen und magnetischen Wellen durchflutet. Elektroinstallationen und strombetriebene Geräte wie Dimmer, Netzgeräte oder Satellitenschüsseln strahlen auf niedriger Frequenz (50 Hertz).
Bei hochfrequenter Strahlung (0,1 bis 3000 Megahertz) verschmelzen elektrische und magnetische Felder zu elekromagnetischen Wellen. Sie stammen unter anderem aus Hochspannungsleitungen, Radio- und Fernsehsendern, Handy-Antennen, schnurlosen Telefonen nach Dect-Standard oder Mikrowellenherden.
Neben der möglichen Wärmewirkung können hochfrequente Wellen die biologischen Regelfunktionen im Organismus von Menschen und Tieren stören.