Autoindustrie steht auf die Bremse
Für die Insassen werden Autos immer sicherer, aber für den Schutz der Fussgänger tun die Hersteller wenig. Ein wirksames Gesetz haben sie erfolgreich torpediert.
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saldo 4/2006
01.03.2006
Marc Meschenmoser
Seitenaufprallschutz, Air-bags links, rechts, unten, vorne und selbst für die Knie: Autofahrer sind vor Unfallfolgen immer besser geschützt. Selbst günstige Kleinwagen sind heute serienmässig mit aufpralldämpfenden Air-bags ausgestattet. Von 84 Fahrzeugen, die im Euro-NCAP- Crashtest geprüft wurden, schneidet fast die Hälfte (34) mit einem «optimalen» Insassenschutz ab (siehe Tabelle Seite 15). Lediglich zwei Autos erhalten in dieser Kategorie schlechte Noten: der
Kleinwagen Chev...
Seitenaufprallschutz, Air-bags links, rechts, unten, vorne und selbst für die Knie: Autofahrer sind vor Unfallfolgen immer besser geschützt. Selbst günstige Kleinwagen sind heute serienmässig mit aufpralldämpfenden Air-bags ausgestattet. Von 84 Fahrzeugen, die im Euro-NCAP- Crashtest geprüft wurden, schneidet fast die Hälfte (34) mit einem «optimalen» Insassenschutz ab (siehe Tabelle Seite 15). Lediglich zwei Autos erhalten in dieser Kategorie schlechte Noten: der
Kleinwagen Chevrolet Matiz und der Van Kia Carnival.
Geländewagen und Vans: Schwere Verletzungen
Ganz anders das Bild, wenn man die geschützte Blechkiste verlässt: Beim Fussgängerschutz fällt fast die Hälfte der Wagen durch. Von 84 Modellen schneiden 39 im Test schlecht oder gar sehr schlecht ab. Kurt Egli, Autor der VCS-Autoumweltliste: «Bisher verstand die Autoindustrie unter Sicherheit den Insassenschutz. Die Hersteller haben die Unfallfolgen für Fussgänger sträflich vernachlässigt.»
Besonders schlimme Verletzungen ziehen sich Passanten bei einer Kollision mit höheren Geländefahrzeugen und Vans zu: Der Frontbereich rammt Kinder am Kopf und schleudert sie zu Boden. Erwachsene erleiden oft üble Verletzungen im Hüftbereich. Bei normalen Personenwagen werden Unfallopfer auf die Motorhaube und übers Auto geschleudert, was weniger gefährlich ist. Denn: In 80 Prozent der tödlichen Unfälle sterben die Fussgänger beim Aufprall aufs Auto und in 20 Prozent beim nachfolgenden Sturz. In der Schweiz wurden im letzten Jahr 70 Fussgänger angefahren und getötet, 600 wurden schwer verletzt.
Immerhin: Die EU verpflichtet die Fahrzeugbauer jetzt per Gesetz, den Fussgängerschutz ernst zu nehmen. Seit 1. Oktober 2005 müssen Personenwagen Knautschzonen für den Bein- und Kopfaufprall haben. Die Schweiz hat diese Bestimmungen übernommen. Was das bedeutet, macht Citroën mit dem Modell C 6 vor: Wird ein Mensch bei einem Unfall aufs Auto geschleudert, hebt sich die Motorhaube blitzschnell 10 Zentimeter, damit der Kopf nicht auf den harten Motor darunter prallt. Als einziges Modell erhält der C 6 deshalb Bestnoten beim Insassen- und beim Fussgängerschutz. Citröen will diese Technologie jetzt auch bei anderen Modellen einbauen. Sprecherin Michelle Jaussi: «Als Hersteller wollen wir keine egoistischen Modelle mehr produzieren. Die Sicherheit der Fussgänger kann nicht länger ausgeblendet werden.»
Gefährliche Frontbügel sind weiterhin erlaubt
So viel Einsicht ist nicht überall vorhanden: Denn die Autoindustrie verhinderte erfolgreich ein griffigeres Gesetz, indem sie in Brüssel mit offizieller Unterstützung etwa von Deutschland lobbyierte. So sind die oft an Geländewagen angebrachten Frontbügel weiter erlaubt, wenn sie beim Aufprall eines Menschen leicht nachgeben. Das freut etwa den deutschen Hersteller Antec, der für seine Bügel wirbt: «Fahren auch Sie eines der beliebten Geländefahrzeuge mit Frontschutzbügel und haben Bedenken wegen eines Unfalls mit Kindern? Die neue Bügel-generation ist energieabsorbierend, die Verletzungsgefahr minimiert.»
Zudem: Um den strengeren Fussgängerschutz zu umgehen, können Autobauer einfach eine neue Variante eines älteren Modells produzieren, etwa einen Kombi. Denn erst im Jahr 2013 müssen sämt-liche Neuwagen unter 2,5 Tonnen Gewicht die neuen Bestimmungen erfüllen.
Besonders gefährliche Autos dürfen weniger sicher sein
Unglaublich: Schwerere Autos sind ohnehin von der Regelung ausgenommen. Die Hersteller müssen daher ausgerechnet an den besonders fussgängerfeindlichen Geländewagen nichts ändern. Zum Beispiel bringt der neue Verkaufsrenner Range Rover Sport 2,7 Tonnen auf die Waage. Derzeit verkehren in der Schweiz rund 160000 Personenwagen, die dank höherem Gewicht weniger sicher sein dürfen. Das stösst Alt-Nationalrat Roland Wiederkehr von Road Cross, der Stiftung für Strassenopfer, sauer auf: «Dass die Schweiz eine solch absurde Norm einfach von der EU übernimmt, ist unverständlich. Offensichtlich gewichten gewisse Behörden die Handelsfreiheit stärker als den Schutz von Mensch und Umwelt.»
«Autobauer sollen mehr tun als das Minimum»
Das Bundesamt für Strassen (Astra) hat die EU-Norm übernommen, obwohl man ihre Mängel kennt. Astra-Sprecher Thomas Rohrbach: «90 Prozent aller Fahrzeuge fallen unter die 2,5-Tonnen-Limite und den verbesserten Fussgängerschutz. Das ist besser als gar nichts. Doch künftig müssen alle Fahrzeuge, auch schwere Geländewagen, einbezogen werden.» Nur: Bis es so weit ist, dürften ganz im Sinne der Geländewagenproduzenten noch Jahre vergehen. Für Fachleute ist deshalb klar: Solange die Mehrheit der Autobauer beim Fussgängerschutz weiterhin auf die Bremse steht, verbessert sich für die Passanten wenig. Deshalb fordert der renommierte Autounfallforscher Felix Walz von der Zürcher Arbeitsgruppe für Unfallmechanik: «Die Autobauer sind beim Insassenschutz mit gutem Beispiel vorangegangen. Jetzt sollen sie auch für den Fussgängerschutz mehr als das ungenügende, gesetzliche Minimum tun.»