Die Zahlen des Internetportals «Mut gegen rechte Gewalt» der Zeitschrift «Stern» sind unbestritten: Allein in der Silvesternacht kam es in Deutschland zu fünf Angriffen auf Asyleinrichtungen. Einer davon war ein Brandanschlag auf eine Asylunterkunft in Niedersachsen. Steine und Bierflaschen flogen auf eine Unterkunft in Sachsen-Anhalt und Feuerwerkskörper auf ein Asylheim in Nordrhein-Westfalen.
Die Serie dauert an. In den ersten sieben Tagen des laufenden Monats kam es in Deutschland zu zehn registrierten Angriffen auf Asyleinrichtungen.
Nur: Die Geschehnisse fanden in den Schweizer Medien keinen Niederschlag. Der Fokus der Berichterstattung richtete sich in den ersten Tagen des neuen Jahres auf Übergriffe junger Männer auf Frauen in Köln.
Die Ereignisse von Köln auf allen Kanälen
Die Aufmerksamkeitskurve lässt sich am besten anhand der TV-Beiträge nachvollziehen. Bis zum 4. Januar waren weder Frauen noch Asylbewerber noch deren Unterkünfte ein Thema.
Ab 5. Januar kam es dann zu einer eigentlichen News-Welle: Bis zum 15. Januar berichtete die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens fünf Mal von Übergriffen auf Frauen in Köln, mehr als über jedes andere Thema. Das Spektrum reichte von der Herkunft der Verdächtigen bis zum angeblich negativen Frauenbild in Nordafrika.
Nur einmal, am 11. Januar, berichtete die «Tagesschau» von Angriffen Rechtsextremer auf Pakistaner am Kölner Hauptbahnhof. «10 vor 10» doppelte in dieser Zeit mit vier Beiträgen über den Silvester in Köln und andern deutschen Städten nach. In keinem einzigen Beitrag von «Tagesschau» oder «10 vor 10» wurden Asyleinrichtungen in Deutschland erwähnt, von Angriffen auf diese ist schon gar nicht die Rede.
In der Presse bietet sich ein ähnliches Bild, wie ein Blick in die Schweizerische Mediendatenbank zeigt. Von der «Silvester-Schande» schrieb der «Blick», «Deutschland in Aufruhr» notierte die «NZZ am Sonntag», «Diese Männer sehen Frauen als Freiwild» zitierten die «Freiburger Nachrichten» einen Jugendpsychologen oder «Die Nacht, die Deutschland verändert» hiess es in der «Schweiz am Sonntag». In all diesen Artikeln ging es stets um Übergriffe, die «Hunderte Männer» in Köln verübt hätten, wie «Der Bund» mit einem Hinweis auf eine «jahrhundertelange, frauenverachtende Erziehung» in Nordafrika schrieb.
Die Angriffe auf Asyleinrichtungen in jenen Tagen fanden hingegen so wenig mediale Beachtung, als hätte es sie nicht gegeben. Offenbar gewichten die Schweizer Medien Gewalt gegenüber Ausländern tendenziell leichter als Gewalt gegenüber Frauen.
Immerhin notierte «20 Minuten»: «Schuss verletzt schlafenden Flüchtling in Frankfurt», und die meisten Zeitungen berichteten von einer Handgranate, die in Baden-Württemberg über den Zaun einer Asylunterkunft geworfen worden war.
Diese spärlichen Informationen kontrastieren die grosse Medienbeachtung im letzten Jahr, als ausführlich von Angriffen auf Flüchtlingsheime in Deutschland berichtet wurde, besonders im Frühjahr und Sommer, nachdem in Sachsen-Anhalt ein Brandanschlag auf ein geplantes Asylheim verübt worden war.
Über 800 Angriffe auf Asylunterkünfte
Die Nachrichtenagentur SDA meldete im Dezember, dass es in Deutschland im Jahr 2015 zu «mehr als 800 Angriffen» auf Asylunterkünfte gekommen sei. Die NZZ schreibt nun in einer Zusammenfassung der rechtsextremen Angriffe im letzten Jahr von gleichen Zahlen unter dem Titel «Bis in die Mitte der Gesellschaft».
Fazit: Die Wahrnehmung von Angriffen auf Asylbewerber oder Flüchtlinge geht den Journalisten nicht völlig ab. Doch die Berichterstattung darüber ist seit den Kölner Vorfällen zu Beginn dieses Jahres weitgehend verschwunden.