Wer oder was ist Boko Haram? Diese berechtigte Frage stellte kürzlich der Radiosender BBC. In den Medien taucht der Begriff häufig auf – in der Regel wird damit eine islamistische Terrorgruppe im Norden Nigerias bezeichnet.
Wörtlich aus der lokalen Sprache Hausa übersetzt heisst Boko Haram «Westliche Bildung verboten». Der Radiobeitrag von BBC deckte auf, wie willkürlich der Begriff gewählt ist. Der islamische Widerstand in Nordnigeria nennt sich demnach nicht selbst so, sondern «Sunniten, die dem Ruf des Islam und des heiligen Kriegs folgen».
Boko Haram ist laut BBC vielmehr der nigerianische Sammelbegriff für alle Kräfte, die sich der Kontrolle der Zentralregierung entziehen: von kriminellen Banden über religiös und sozial motivierten, militärischen Widerstand bis zu geistlichen Gelehrten, die ihr Leben der religiösen Hingabe widmen.
«Laut und in martialischer Pose»
Trotz dieser unklaren Lage – das «St. Galler Tagblatt» kennt den «Chef der jihadistischen Terrorgruppe Boko Haram» namentlich. In einem Video habe Abubakar Sheku «langfädig, laut und in martialischer Pose» ein «Kalifat verkündet». Unter einem Kalifat versteht man das Reich eines Stellvertreters Gottes. Ob wahr oder nicht: Der Leser des Artikels erfährt nicht ansatzweise, welche Bewegung hinter der Etikette Boko Haram steckt.
Wo es an Quellen mangelt, greifen Journalisten gerne auch zu einer martialischen Sprache: «Die Islamisten zwingen Mädchen zu Sex und Knaben unter die Waffen und rauben auf der Suche nach Nahrung Speicher aus und Felder leer», heisst es in der NZZ – laut «einem Bericht». Was das für ein Bericht ist, bleibt unklar.
Sunniten hüben und drüben
Eine weitere Etikette, die Journalisten gern verwenden, lautet «al-Kaida». Seit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center vor 13 Jahren taucht der Begriff immer wieder auf – bis heute. Beispiel «Neue Luzerner Zeitung»: «Vor allem die sunnitischen Stammesführer im Westirak schlugen sich auf die Seite der Bagdader Regierung und bekämpften die irakische al-Kaida.» Aus diesem Satz wird ein Leser kaum schlau, zumal die diffuse und wahrscheinlich vielfältige Untergrundbewegung al-Kaida selbst den Sunniten nahestehen soll.
Für das Kriegsgeschehen im nördlichen Irak und Syrien haben Medienschaffende ebenfalls eine Etikette: «IS, vormals ISIS». Die offiziös anmutenden Kürzel stehen für «islamischer Staat, vormals islamischer Staat im Irak und Syrien». Eine Landkarte der Region in der NZZ zeigt jedoch, dass der Begriff «Staat» in diesem Zusammenhang ziemlich weit hergeholt zu sein scheint: Bei ISIS handelt es sich um ein stark verzetteltes Gebilde. Auch ist keineswegs klar, wer oder was sich hinter dieser anscheinend religiös motivierten militärischen Bewegung verbirgt. Wie verwirrlich die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass nicht etwa ein fanatisierter Araber, sondern ein Brite den US-Journalisten James Foley enthauptete. Egal, viele Blätter flüchten sich in einen Jargon, der an kriegerische Propaganda gemahnt. So schreibt die «Sonntags-Zeitung» von «mordlüsternen Extremisten» und «IS-Schlächtern». Oder das «Bündner Tagblatt»: «Zerfällt ein Staat, steht dem nackten Wahnsinn Tür und Tor offen», heisst es dort holprig.
Dass es auch anders geht, zeigte die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens mit ihrer Berichterstattung über Syrien: Sie präsentierte Ende August einen Uno-Bericht zur Menschenrechtslage in Syrien. Hier wird nüchtern festgehalten, dass «in Syrien absolute Rechtlosigkeit herrscht. Es werden täglich zahlreiche Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen».
Ebenso klar ein Bericht von Amnesty International, den «Tages-Anzeiger» und «Bund» zitierten: In der irakischen Provinz Nineveh sei es zu «ethnischen Säuberungen in historischem Umfang» gekommen. «Hunderte, vielleicht sogar Tausende» jessidischer Frauen und Kinder seien entführt und zahlreiche Männer erschossen worden. Nüchterne Worte, die mehr sagen als jede Kriegsrhetorik.
Der Experte als Retter in der Not
Wo Journalisten nicht mehr weiterwissen, helfen Experten. Doch auch die sind nicht immer hilfreich, wie der «Sonntagsblick» belegt. Konfliktforscher Kurt R. Spillmann erklärt der Leserschaft: «Der Mensch war immer auch eine Bestie. Zwei amerikanische Primatenforscher haben festgestellt: Menschen und Schimpansen sind gegenüber ihren eigenen Artgenossen die brutalsten Lebewesen, die es gibt. Sie verfolgen ihre Gegner, wenn sie schon geschlagen sind.»
Da werden die Leser wohl höchstens staunend ausrufen: «Mich laust der Affe!»