Entwicklung von neuen Medikamenten: Viel günstiger, als die Industrie behauptet
Mit hohen Kosten für Forschung und Entwicklung rechtfertigt die Pharmabranche teure Medikamentenpreise. Nur: Die Rechnung der Hersteller stimmt nicht. Ihr Aufwand ist viel geringer als behauptet.
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saldo 11/2011
06.06.2011
Letzte Aktualisierung:
07.06.2011
Eric Breitinger
Auf seiner Homepage klagt der Lobbyverband der Schweizer Pharmabranche Interpharma über die hohen Entwicklungskosten für neue Produkte. «Heute belaufen sich die Kosten für die Forschung und Entwicklung eines neuen Medikaments auf mehr als 1300 Millionen US-Dollar.» Interpharma erklärt, dass von 10 000 Substanzen nur 10 in die klinische Testphase kommen und davon nach einer bis zu zwölfjährigen Entwicklungszeit nur ein Medikament in den Handel gelange....
Auf seiner Homepage klagt der Lobbyverband der Schweizer Pharmabranche Interpharma über die hohen Entwicklungskosten für neue Produkte. «Heute belaufen sich die Kosten für die Forschung und Entwicklung eines neuen Medikaments auf mehr als 1300 Millionen US-Dollar.» Interpharma erklärt, dass von 10 000 Substanzen nur 10 in die klinische Testphase kommen und davon nach einer bis zu zwölfjährigen Entwicklungszeit nur ein Medikament in den Handel gelange. Die Botschaft: Der Aufwand an Geld und Zeit sowie das hohe Risiko rechtfertigen hohe Arzneimittelpreise.
saldo hat nachgehakt und Belege für die Behauptungen verlangt. Interpharma beruft sich auf zwei Studien des amerikanischen Tufts-Instituts in Boston. Diese rechnen mit Entwicklungskosten zwischen 802 Millionen Dollar bei herkömmlichen Medikamenten und 1,3 Milliarden bei biotechnologisch hergestellten Arzneistoffen (Biologika).
Interpharma gibt die höhere Zahl an, obwohl Biologika nur einen Drittel der 2010 von Swissmedic registrierten neuen Arzneimittel ausmachten. Zudem ist bereits die tiefere Zahl unrealistisch hoch.
Beide Berechnungen beruhen auf unsicheren Daten: Die Autoren geben in der Studie von 2003 an, dass ihre Kalkulation auf vertraulichen Angaben von zehn Pharmafirmen beruhe. Bei der Studie von 2007 stammten die Daten angeblich von vier Firmen. Um welche Fimen und Medikamente es sich handelt, verschweigen die Autoren. Und sie lassen offen, ob und wie sie die Angaben der Hersteller kontrolliert haben.
Fazit: Die Zahlen sind fragwürdig. Sie stammen direkt aus interessierten Kreisen und sind nicht nachprüfbar. Zudem stellt sich die Frage, wie unvoreingenommen die Autoren ans Werk gingen. Das Tufts-Institut erklärt zwar seine Unabhängigkeit, aber zwei Drittel seiner Gelder stammen laut der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» aus industrienahen Quellen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von gefärbten Studienergebnissen zugunsten der Geldgeber (saldo 02/2010).
Die Autoren stellen tatsächlich waghalsige Berechnungen an. Sie weisen in der ersten Studie Entwicklungskosten von durchschnittlich 403 Millionen Dollar aus.
Zu dieser Summe rechnen sie «Opportunitätskosten» in Höhe von knapp 50 Prozent hinzu. Dieser Betrag soll den Pharmafirmen angeblich entgangen sein, weil sie ihr Geld in die Forschung steckten, statt damit am Finanzmarkt zu spekulieren. Dort hätten sie laut den Autoren eine Jahresrendite von 11 Prozent erzielt – eine unrealistische Annahme. Bei der Biologika-Studie blähen sie die angeblichen Ausgaben der Hersteller durch noch höhere Kapitalkosten auf 1,3 Milliarden Dollar auf. Nach heutigem Wechselkurs sind das 1,1 Milliarden Franken.
Hersteller machen die Rechnung ohne öffentliche Gelder
Während die Autoren mit Fantasiekosten rechnen, lassen sie kostensenkende Faktoren weg: So unterschlagen sie, dass Hersteller durch die Ausgaben ihre Steuern senken. Zugleich blenden sie den Anteil an öffentlichen Geldern aus, der in ihren Arzneimitteln steckt.
Etzel Gysling, Herausgeber des Schweizer Fachblatts «Pharma-Kritik», sagt: «Die Industrie betreibt nur wenig eigentliche Forschung.» In der Regel griffen Hersteller bei der Entwicklung neuer Präparate auf Forschungsergebnisse von Universitäten zurück. In keiner Kostenkalkulation der Hersteller tauchen jedoch die Steuergelder auf, welche die Grundlagenforschung an den Unis erst ermöglichen.
Weiter kritisiert Gysling, dass die Branche auch den Beitrag der Patienten nicht berücksichtigt, die ihre Gesundheit in Medikamenten-Tests riskieren und dafür selten eine Entschädigung erhalten (saldo 13/2009).
Nur wenige neue Präparate sind echte Innovationen
Laut Interpharma fallen die erwähnten 1,1 Milliarden Franken Entwicklungskosten für «ein neues Medikament» an. Das suggeriert, dass alle neuen Medikamente mit ähnlich grossem Aufwand entwickelt wurden.
Allerdings: Im Grossteil der neu registrierten Präparate steckt viel weniger Forschung und Geld. Die Branche schafft Neues oft dadurch, dass sie alte Produkte nur wenig abändert.
Selbst die Tufts-Studien beziehen sich nur auf «innovative» Medikamente, die neue Wirkstoffe enthalten. Davon kamen zwischen 2003 und 2008 jährlich weltweit gerade mal 30 auf den Markt.
Fraglich ist auch, ob die Industrie tatsächlich bis zu zwölf Jahre braucht, bis ein neues Medikament auf den Markt kommt. Die Zeitspanne für die klinische Prüfung und die Zulassung sank in den USA laut einer US-Studie zwischen 1992 und 2001 von acht auf fünf Jahre. In der Schweiz rechnet die Heilmittelbehörde Swissmedic aktuell mit einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von elf Monaten.
Hersteller geben viel mehr aus für Werbung als für Forschung
Die Entwicklungskosten für ein neues Medikament sind daher viel niedriger, als die Industrie behauptet. So zitiert das Fachblatt «Arznei-Telegramm» die Rechnung zweier unabhängiger US-Wissenschafter für zwei neue Impfstoffe zum Schutz vor Rotaviren, die Durch-
fallerkrankungen auslösen.
Die Wissenschafter werteten Untersuchungen aus und befragten Forscher. Sie schätzen die Kosten für die Entwicklung des Impfstoffes Rotarix auf maximal 192 Millionen Dollar und die von Rotateq auf maximal 206 Millionen Dollar.
Eine aktuelle US-amerikanisch-kanadische Studie berücksichtigt Steuerersparnisse und Produkte, die mit geringem Aufwand entwickelt werden. Sie rechnet mit durchschnittlichen Kosten von 43,4 Millionen Dollar pro Medikament.
Wo die Branche ihren Schwerpunkt setzt, verraten ihre Statistiken: Die grossen Pharmakonzerne geben doppelt so viel für Marketing und Vertrieb aus wie für Forschung und Entwicklung.