Autohersteller: Kein Interesse am Schutz der Fussgänger
In Europa sterben bei Autounfällen jährlich bis zu 5000 Fussgänger. Durch den Einsatz neuer Techniken liessen sich viele Menschenleben retten. Doch die Autohersteller treten auf die Bremse.
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saldo 01/2010
18.01.2010
Letzte Aktualisierung:
19.01.2010
Eric Breitinger
Auf Schweizer Strassen kamen in den vergangenen zehn Jahren 914 Fussgänger ums Leben, knapp 8000 erlitten schwere Verletzungen. Allein 2008 verunfallten 59 Passanten tödlich, 638 wurden schwer verletzt. In der EU lassen sogar bis zu 5000 Fussgänger im Jahr ihr Leben. «Diese hohen Opferzahlen liessen sich deutlich senken, wenn die Autohersteller mehr in den lange vernachlässigten Fussgängerschutz investieren würden», sagt Kurt Egli, Autoexperte des Ver...
Auf Schweizer Strassen kamen in den vergangenen zehn Jahren 914 Fussgänger ums Leben, knapp 8000 erlitten schwere Verletzungen. Allein 2008 verunfallten 59 Passanten tödlich, 638 wurden schwer verletzt. In der EU lassen sogar bis zu 5000 Fussgänger im Jahr ihr Leben. «Diese hohen Opferzahlen liessen sich deutlich senken, wenn die Autohersteller mehr in den lange vernachlässigten Fussgängerschutz investieren würden», sagt Kurt Egli, Autoexperte des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS).
Sicherheitstechnik vorhanden, aber nicht eingebaut
In der Tat schneiden in Crash-Tests der europäischen Konsumentenschutzorganisation Euro NCAP neue Modelle beim Fussgängerschutz fast immer schlechter ab als bei Kategorien wie Insassen- oder Kinderschutz. Beim letzten Test erreichte von zwölf Modellen nur der BMW X 1 63 Prozent der möglichen Punkte. Die anderen Wagen dümpelten bei 50 Prozent und weniger herum. Am schlechtesten präsentierte sich der Chevrolet Cruze mit 34 von 100 möglichen Punkten.
Dabei gibt es inzwischen einige innovative Sicherheitssysteme für Autos, welche Fussgänger besser vor schweren Verletzungen schützen können. Die Hersteller bauen diese nur zu selten in die Autos ein – aus finanziellen Gründen.
- Fussgänger-Erkennung: Auf dem Genfer Automobilsalon im März präsentiert Volvo in der Limousine S 60 ein neues serienmässiges «Kollisions-Warnsystem für Fussgänger» als Weltneuheit. «Es kann Fussgänger erkennen, die auf die Strasse laufen, und Kollisionen verhindern», sagt Sascha Heiniger von Volvo Schweiz.
Dazu wertet die Bordelektronik ständig Daten von Radar und Kameras am Wagen aus. Gerät ein Fussgänger ins Sichtfeld, berechnet das System anhand von Bewegung und Silhouette seine Laufrichtung. Droht eine Kollision, schlägt das System Alarm. Reagiert der Fahrer nicht, löst es automatisch die Vollbremsung aus. Das neue Warnsystem ist als Zubehör auch für andere Volvo-Modelle erhältlich.
Laut ADAC-Crash-Experte Volker Sandner «können solche vorausschauenden Systeme sehr viele Verletzungen verhindern». Uwe Ewert von der Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu geht davon aus, dass die neue Technik «den effektivsten Fussgängerschutz bietet, da sie Unfälle vermeidet». Bei Autounfällen mit Tempo 50 haben Fussgänger laut Studien je nach Alter nur eine 30- bis 60-prozentige Überlebenschance.
- Notbremsassistent: Studien zeigen, dass bei Auffahrunfällen jeder dritte Autofahrer gar nicht oder jeder zweite zu schwach bremste. Hier springt nun die Technik ein: Tritt der Fahrer ruckartig auf die Bremse, schliesst das System auf eine Notsituation und erhöht blitzschnell den Bremsdruck. Dies verkürzt den Bremsweg und hilft, die Kollision zu verhindern.
Komplexere Systeme überwachen mit Kameras und Radar den Raum vor dem Auto. Die Unfallforscher der deutschen Versicherer rechnen, dass automatische Notbremssysteme bis zu 12 Prozent der schweren PW-Unfälle verhindern könnten. Bisher baut nur VW ein solches System in Wagen der Kompaktklasse, den Golf VI, ein. Sonst sind nur wenige, eher teure Modelle mit der Elektronik ausgestattet, etwa solche von BMW, Mercedes, Volvo oder Lexus.
- Xenon: Noch sind Halogen-Scheinwerfer am Auto Standard. Laut Sicherheitsexperten werfen Xenon-Leuchten bei Nacht jedoch zwei bis drei Mal mehr Licht auf die Strasse, verlängern die Lichtbündel um 50 Prozent und leuchten die Seiten besser aus. Laut einer Studie des TÜV Rheinland liesse sich die Zahl tödlicher Unfälle um 18 Prozent reduzieren, wenn alle Autos Xenon-Licht hätten.
Die Vorteile von Xenon-Scheinwerfern zeigten Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover: Bei Simulationen erkannte ein mit Xenon-Licht fahrender Fahrer zwei überraschend auf die Strasse laufende Kinder zehn Meter früher als bei Halogen-Beleuchtung. Er konnte rechtzeitig bremsen, mit Halogen-Licht hätte er die Kinder überfahren. Die Hersteller rüsten Grundmodelle aber meist nicht mit Xenon aus. Das Nachrüsten kostet schnell 1500 Franken und mehr.
Fussgängerschutz ist kein attraktives Kaufargument
Das geringe Interesse der Hersteller an mehr Passantensicherheit hat laut ADAC-Experte Volker Sandner einen Hauptgrund: Fussgängerschutz lasse sich nur schwer vermarkten. «Investitionen gehen daher von der Marge der Hersteller ab», sagt Sandner. Zieht die Nachfrage nicht an, bleibt der Preis der neuen Techniken hoch und für Autofabrikanten unattraktiv.
Daran kann nur öffentlicher Druck etwas ändern: So führte eine seit Oktober 2005 in der Schweiz und der EU gültige Verordnung dazu, dass Personenwagen heute immerhin Knautschzonen für Bein- und Kopfaufprall haben. Ab Februar 2011 müssen in der EU alle bis zu 2,5 Tonnen schweren Neufahrzeuge mit Bremsassistenz-Systemen ausgestattet sein. Ab 2015 gilt das auch für schwerere Autos. Die EU hofft so, jährlich bis zu 1100 tödlich verlaufende Unfälle mit Fussgängern zu vermeiden. «Wir werden diese Regelung zeitgleich übernehmen», sagt Thomas Rohrbach, Sprecher des Bundesamts für Strassen.