Der Kläger ist Informatiker und gut 45 Jahre alt. Er erscheint im Gegensatz zu seinem ehemaligen Arbeitgeber ohne Anwalt vor dem Einzelrichter am Bezirksgericht Bülach ZH. Für die letzten beiden Monate seines Arbeitsverhältnisses im März und April des letzten Jahres fordert er noch insgesamt 15 400 Franken Lohn.
«Schon vor der Kündigung einen Stich im Herzen gespürt»
Der Informatiker schildert dem Richter leise und ruhig den Sachverhalt. Das IT-Unternehmen habe ihm den Arbeitsvertrag am 29. Oktober 2015 gekündigt. Schon einen Tag vorher habe er einen Stich im Herzen gespürt. Am Tag nach der Kündigung sei er zum Arzt gegangen. «Er untersuchte mich und schrieb mich von Anfang November 2015 bis Ende Februar 2016 krank.» Damit habe sich laut Gesetz die Kündigungsfrist bis Ende April 2016 verlängert. Lohn habe er aber nur bis Ende Februar erhalten.
Arbeitgeber: Arztzeugnis ist zu spät eingereicht worden
Dann erteilt der Einzelrichter der Anwältin der IT-Firma das Wort. Sie macht geltend, der geschilderte Sachverhalt sei unvollständig: Erstens sei die Kündigungsfrist von drei auf zwei Monate verkürzt worden – und zwar «im gegenseitigen Einvernehmen». Das Arbeitsverhältnis habe deshalb schon Ende Dezember geendet. -«Dafür erhielt der Kläger aber eine hohe Abgangsentschädigung von 30 800 Franken.» Zweitens habe der ehemalige Angestellte das Arztzeugnis für den ganzen Zeitraum von November 2015 bis Februar 2016 erst im Februar eingereicht. «Dieses nachträglich eingereichte Arztzeugnis ist unwirksam», sagt die Anwältin. Gültig seien nur die beiden früher eingereichten Zeugnisse vom 2. bis 14. November und vom 25. November bis 16. Dezember. Deshalb habe sich die Kündigungsfrist bis Ende Februar verlängert. «Und nicht wie vom Kläger behauptet bis Ende April.»
Der Kläger entgegnet, er habe dem Arbeitgeber geschrieben, es gehe ihm schlecht, er habe seine Arbeit aber trotzdem angeboten. «Die Kündigung warf mich völlig aus der Bahn.» Er habe sich wie Dreck behandelt gefühlt. Andere Angestellte hätten eine längere Kündigungsfrist und eine höhere Entschädigung erhalten. «Zudem wusste ich nicht, dass meine Kündigungsfrist eigentlich drei Monate beträgt.»
Die Anwältin der IT-Firma entgegnet: «Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Kündigung hart ist.» Aber der Kläger könne zu seinen Gunsten nichts daraus ableiten, dass andere Angestellte eine längere Kündigungsfrist und eine höhere Entschädigung als er selbst erhalten hätten. Zudem sei dem Kläger klar gewesen, dass die Kündigungsfrist ursprünglich drei Monate betragen habe.
Bis 30 000 Franken Streitwert entstehen keine Gerichtskosten
Der Einzelrichter schlägt vor, dass sich die Parteien für vertrauliche Vergleichsverhandlungen zurückziehen. Bezüglich des nachträglich ausgestellten Arztzeugnisses ist er skeptisch. Hinter verschlossenen Türen einigt sich der Informatiker mit seinem ehemaligen Arbeitgeber auf eine Restzahlung von 7700 Franken – der Hälfte der eingeklagten Summe. Gerichtskosten fallen nicht an, da Streitigkeiten in Arbeitsverhältnissen unter 30 000 Franken kostenlos sind.
Arztzeugnisse: Nicht über alle Zweifel erhaben
Beweiskraft. Die Gerichte dürfen alle Beweise frei würdigen. Das bedeutet: Weder Zeugenaussagen noch Urkunden sind zwingende Beweise für einen bestimmten Sachverhalt – etwa die Arbeitsunfähigkeit.
Hat ein Gericht Zweifel an der Richtigkeit eines ärztlichen Zeugnisses, muss es sich nicht daran halten. Allenfalls ist noch eine Vorladung des Arztes als Zeuge möglich. Das kommt bei den Arbeitsgerichten nicht selten vor. Besonders unglaubwürdig sind Zeugnisse, mit denen ein Arzt seinen Patienten rückwirkend für arbeitsunfähig erklärt.