Viele Schweizer Tageszeitungen werden immer dünner. Denn die meisten Inserate, Stellenanzeigen, Wohnungs- und Autorubriken sind nur noch im Internet zu finden. Mager ist inzwischen aber auch der redaktionelle Teil. Das zeigt ein saldo-Vergleich anhand der Ausgaben der ersten sieben Dezembertage von sechs grossen Tageszeitungen in den Jahren 2011 und 2021 (siehe Tabelle im PDF). Resultat: Die Zahl der Artikel sank innerhalb von zehn Jahren um 32 bis 60 Prozent. Die Anzahl der Kurzmeldungen ging sogar um 57 bis 93 Prozent zurück.
Am wenigsten baute der «Blick» ab, am meisten die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). Zu einem ähnlichen Resultat kam im Jahr 2020 das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.
Gedruckte Zeitungen nur noch Nebenprodukte digitaler Kanäle
Trotz der inhaltlichen Ausdünnung stiegen die Preise. Die «Basler Zeitung» etwa schlug am Kiosk von Fr. 2.80 auf Fr. 4.10 auf. Der «K-Tipp» verglich vor anderthalb Jahren die Preise für Jahresabos («K-Tipp» 14/2020). Dabei zeigte sich, dass die NZZ am stärksten aufgeschlagen hatte: Der Preis stieg seit 2010 von 512 auf 814 Franken. Heute kostet das NZZ-Jahresabo sogar 949 Franken.
Der Inhalt der Zeitungen wird nicht nur magerer, sondern auch schlechter. Die Verlage arbeiten nach dem Prinzip «Online first» oder «Mobile first»: Die digitalen Publikationskanäle haben Vorrang. Die gedruckte Zeitung ist nur noch ein Nebenprodukt.
Das wurde kürzlich wieder einmal deutlich, als in der «Berner Zeitung» eine Klammerbemerkung zu lesen war. Sie lautete: «Hier geht es zur Visualisierung des Projekts.» Auf dem Smartphone liess sich durch Berühren dieser Zeile ein Bild aufrufen. In der gedruckten Zeitung nützte alles Drücken nichts: Die Redaktion hatte vergessen, die Klammerbemerkung für die gedruckte Ausgabe zu entfernen. Ebenfalls in der «Berner Zeitung» stand: «Die YB-Medienstelle war bis am Mittag für eine Stellungnahme nicht erreichbar.» Offenbar war für den Internetbeitrag am Mittag Redaktionsschluss. Für den gedruckten Artikel hätte sich die Redaktion noch zwölf Stunden länger um eine Stellungnahme bemühen können.
Kommt hinzu, dass etliche Zeitungen Artikel aus Deutschland übernehmen. Kürzlich verglich ein halbes Dutzend Zeitungen aus dem «Tages-Anzeiger»-Verlag die Corona-Situation in Südafrika mit derjenigen von «hier». Doch damit war nicht die Schweiz gemeint, sondern Deutschland. Denn der Artikel war tags zuvor für die «Süddeutsche Zeitung» geschrieben worden. Der «Tages-Anzeiger» und die dazugehörigen Blätter druckten ihn einfach ab, ohne ihn zu überarbeiten – wie viele andere Beiträge aus München. Und: Rund zehn Schweizer Tageszeitungen übernehmen Seiten praktisch unverändert vom «Tages-Anzeiger».
Mehr ganzseitige Artikel, weniger Kurzmeldungen
Die Verlage messen den Erfolg ihrer Internetkanäle oft an der Verweildauer. Das heisst: Sie messen, wie lange sich ein Leser mit einem Artikel beschäftigt. Für die Journalisten entsteht so ein Anreiz, möglichst lange Artikel zu schreiben. Auch dann, wenn es wenig zu sagen gibt. So druckte etwa der «Tages-Anzeiger» am 7. Dezember 2021 auf 24 Seiten sechs ganzseitige Artikel ab. Übertroffen wurde er letzte Woche von der «Berner Zeitung», die auf knapp 19 Seiten acht ganzseitige Artikel platzierte. Darunter waren nicht enden wollende Artikel mit Titeln wie «Was Homeoffice mit uns macht».
Für die Zeitungen haben diese Endlosartikel einen grossen Vorteil: Die Seiten lassen sich damit viel schneller füllen als mit Kurzmeldungen. Das zeigt sich vor allem im Sportteil. Kurzmeldungen oder Resultate werden kaum mehr abgedruckt.
Und was sagen die Verlage dazu? Tamedia gibt unter anderem «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» heraus. Der Verlag bestätigt die saldo-Recherchen: «Am wichtigsten ist für uns die Nutzungszeit. Also wie viel Zeit eine Leserin oder ein Leser mit einem Online-Artikel verbringt.» Tamedia spricht mit Blick auf die langen Artikel von «Vertiefung, Hintergrund und Analyse». Ringier sagt: «Über alle ‹Blick›-Kanäle hinweg hat die Anzahl der Beiträge zu- und nicht abgenommen.» Dazu zählt Ringier neben der gedruckten Zeitung auch «Blick.ch, Video-Beiträge von Blick-TV, Postings und Beiträge auf den Social-Media-Kanälen».
Die NZZ, die 60 Prozent weniger Artikel druckt als vor zehn Jahren, rechtfertigt den enormen Preis fürs Jahresabo mit der «redaktionellen Eigenleistung» und dem «einmalig dichten Korrespondentennetz».