Jahrelang hatte Brigitte M. aus dem Kanton Zürich kaum Zahnprobleme. Deshalb wunderte sie sich, als ihr der Zahnarzt bei einer Routineuntersuchung mitteilte, ihr Gebiss habe acht Löcher, die dringend geflickt werden müssten. Die Frau traute der Diagnose nicht und suchte Peter Zuber in Winterthur auf. Dieser Zahnarzt ist spezialisiert auf unabhängige Beurteilungen. Er fand bei M. lediglich ein kleines Loch. Sonst waren die Zähne in Ordnung. Für Zuber ist klar: Der Zahnarzt wollte möglichst viel kassieren.
Zuber ist seit 34 Jahren Zahnarzt. Seit gut einem Jahr führt er keine Behandlungen mehr durch, sondern arbeitet als neutraler Berater. Für ihn steht fest, dass die Zahl von unnötigen Therapien in den letzten Jahren deutlich zunahm. Auch die zahnmedizinische Beraterin Maggie Reuter von der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz bestätigt: «Wir bearbeiten vermehrt Fälle, bei denen es um Überbehandlung geht.»
Statistiken zu Überbehandlungen existieren nicht. Doch auch Peter Suter, Präsident der Vereinigung der Kantonszahnärzte, sagt: «Meldungen von Zahnarztkollegen zeigen eine Zunahme der Fälle.» Ein Grossteil der Zahnarztpraxen behandle die Patienten aber «richtig und nach bestem Wissen und Gewissen».
Überbehandlungen sind in verschiedener Hinsicht möglich: Einige Zahnärzte führen grundlos umfangreiche und nicht zielgerichtete Röntgenuntersuchungen durch. Andere ersetzen Zähne, statt sie zu reparieren. Lieber setzen sie eine Krone ein, als ein Loch zu flicken. Oder Zähne werden vorschnell durch ein Implantat ersetzt. Ein Dorn im Auge sind Suter auch Praxen, die das Verkleiden der Frontzähne (Veneers) oder das Aufhellen von Zähnen (Bleaching) als moderne Zahnmedizin anpreisen.
Fast doppelt so viele Zahnärzte wie vor 15 Jahren
Eine Erklärung für die Zunahme von Überbehandlungen: Es herrscht eine Überversorgung an Zahnärzten. Das setzt Anreize für unnötige Behandlungen. Laut Marco Tackenberg, Sprecher der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft SSO, gibt es in der Schweiz rund 6500 praktizierende Zahnärzte. 2002 zählte das Bundesamt für Statistik erst 3500. Der Anstieg ist vor allem auf den Zuzug von Zahnärzten aus dem Ausland zurückzuführen. Seit dem Inkrafttreten der bilateralen Verträge im Jahr 2002 liessen über 4600 Zahnärzte aus dem EU-/Efta-Raum ihre ausländischen Diplome anerkennen.
Insbesondere grössere Städte und Agglomerationen sind mit Zahnärzten überversorgt. Zu dieser Situation beigetragen haben Grosspraxen, die sich in den letzten Jahren an besten städtischen Lagen angesiedelt haben. Diese Entwicklung belegt auch eine im letzten Jahr bei den SSO-Mitgliedern durchgeführte Umfrage: Demnach ist fast die Hälfte der städtischen Praxen nur zu 80 Prozent oder weniger ausgelastet. Bekannt ist: Fällt die Auslastung einer Praxis unter 80 Prozent, kann sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Da ist die Versuchung gross, mehr zu behandeln, als notwendig ist.
SPO-Beraterin Maggie Reuter empfiehlt, sich bei der Suche nach einem Zahnarzt nicht von niedrigen Taxpunktwerten blenden zu lassen. Zuweilen kompensieren solche Zahnärzte den tiefen Taxpunktwert mit überbordenden Therapien. Im Zweifel sollte ein zweiter Kostenvoranschlag eingeholt werden (siehe Unten).
Für die Zweitmeinung an die Uni
In der Schweiz deckt die Grundversicherung der Krankenkasse Behandlungen durch den Zahnarzt nur in wenigen Fällen. Deshalb bleiben rund 90 Prozent der Zahnarztkosten an den Patienten hängen. 2014 gaben die privaten Haushalte 3,68 Milliarden Franken für den Zahnarzt aus.
Generell gilt: Patienten sollten sich nicht sofort zu einer umfangreichen Behandlung überreden lassen. Fast immer gibt es Alternativen. Verlangen Sie, dass der Zahnarzt verschiedene Lösungswege aufzeigt und einen Kostenvoranschlag macht. Falls Ihnen dennoch Zweifel bleiben, ist es sinnvoll, eine Zweitmeinung einzuholen. Der Patient hat das Recht auf die Herausgabe der Original-Röntgenbilder und eine Kopie der Krankengeschichte.
Eine Zweitmeinung einzuholen ist grundsätzlich bei jedem Zahnarzt möglich, aber auch an den Universitäten: in Bern bei den zahnmedizinischen Kliniken, in Basel bei den Universitätszahnkliniken und in Zürich beim Zentrum für Zahnmedizin.
Zweitmeinungen sind kostenpflichtig. Eine Behandlung ist auch an einer universitären Klinik möglich.