Vier Fussgänger und drei Velofahrer starben im Jahr 2018 in der Stadt Zürich bei Unfällen. In Bern waren es im gleichen Jahr drei Fussgänger und zwei Velofahrer. In Basel ein Fussgänger und ein Velofahrer.
Anders in Oslo, der Hauptstadt Norwegens, und in Helsinki, Finnland. In der finnischen Hauptstadt kamen im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit 1960 im Verkehr keine Fussgänger und Velofahrer mehr ums Leben. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren verloren auf den Strassen Helsinkis pro Jahr bis zu 30 Menschen ihr Leben. Das schlimmste Jahr war 1965. Damals starben 84 Menschen.
Mit welchem Rezept retten Helsinki und Oslo im Verkehr Menschenleben? Helsinkis Vize-Bürgermeisterin Anni Sinnemäki: «Zu den Schlüsselfaktoren zählt die Verringerung der Höchstgeschwindigkeit.» Das sei seit den 1970er-Jahren konsequent durchgesetzt worden. In den meisten Wohngebieten und im Stadtkern gilt Tempo 30, auf Hauptverkehrsstrassen 40 km/h und in den Vororten 50 km/h.
Laut dem finnischen Verkehrsingenieur Jussi Yli-Seppäl braucht es für den Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmer auch vermehrte Verkehrskontrollen, eine verbesserte Verkehrssicherheit sowie gut überblickbare Strassen. Viele Kameras halten heute in Helsinki an Fussgängerstreifen fest, ob die Autofahrer den Fussgängern tatsächlich den Vortritt gewähren. Wer das Gebot missachtet, zahlt eine hohe Busse. Der Aufwand lohnt sich: Gemäss Sinnemäki ergab eine Auswertung mit Daten der EU-Agentur Eurostat, dass Helsinki die «beste Stadt der Welt für Familien» sei. «Ein sicheres Umfeld trägt wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität bei.»
«Auf den Strassen müssen sich Menschen treffen können»
Den gleichen erfolgreichen Weg ging Oslo: Die Verkehrswende begann 2015, als die neu gewählte Stadtregierung den Plan verkündigte, die Autos aus dem Stadtzentrum zu verbannen. Oslo wollte mit hohen City-Mautgebühren die Autofahrer von der Stadt fernhalten. Die Metropole richtete auch zahlreiche Tempo-30-Zonen ein. Vor allem aber strich man viele Parkplätze, wandelte diese in Begegnungszentren um und vergrösserte die Zahl der Velowege und Fussgängerpassagen. «Wir wollen den Menschen die Strassen zurückgeben», sagt Hanna Marcussen, Vize-Bürgermeisterin und verantwortlich für Stadtentwicklung. «Strassen müssen so sein, dass Menschen sich dort treffen und essen können. Ein Ort, wo Kinder spielen und Kunstwerke ausgestellt werden können.»
Die Stadt Zürich führte in den vergangenen Jahren auf etlichen Strassen Tempo 30 ein. Allerdings erst auf gut der Hälfte des städtischen Strassennetzes von 670 Kilometern. Schon jetzt zeigt sich, dass es «viel weniger Schwerverletzte gibt». Das sagt Heiko Ciceri von der Dienstabteilung Verkehr. Und: Auf Tempo-30-Strassen passieren nur 10 Prozent der Unfälle.
In der Stadt Bern sind knapp zwei Drittel der Strassen verkehrsberuhigt. Weitere sollen nach dem Willen des Gemeinderates folgen. Dabei kommt es immer wieder zu Widerstand. Wie jüngst im Marziliquartier. Auf einen positiven Entscheid des Regierungsstatthalters beschwerten sich Gewerbler. Eltern und ihre Kinder hingegen demonstrierten für Tempo 30. Jetzt muss sich das Verwaltungsgericht damit befassen. Der Gemeinderat beruft sich auf ein Urteil des Bundesgerichts vom 2. März 2018. Darin bestätigten die höchsten Richter, dass Tempo 30 als Massnahme zur Erhöhung der Sicherheit zweckmässig sei, sofern ein Gefahrenpotenzial bestehe und insbesondere die Gefährdung schwächerer Verkehrsteilnehmer verringert werden könne.
Weshalb hinken Schweizer Städte Helsinki und Oslo hinterher? Für den Mobilitätsforscher Thomas Sauter- Servaes von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften muss das Autofahren in der Schweiz deutlich teurer werden und die Velonutzung bequemer und sicherer, um eine Verbesserung zu erreichen. Privatautos seien heute eher Steh- als Fahrzeuge und würden im Durchschnitt nur eine Stunde pro Tag bewegt. Rund die Hälfte aller städtischen Autofahrten sind kürzer als 5 Kilometer. Ohne Anreize ändert sich laut Sauter-Servaes nichts. Personenwagen würden immer grösser, schwerer und antriebsstärker. Folge: «Die knappe Fläche wird noch stärker beansprucht. Und die grössere Masse der Autos verschlimmert die Unfallfolgen für Velofahrer und Fussgänger.»
«Bisher fehlte der Mut zu wirksamen Massnahmen»
Sauter-Servaes fordert einen massiven Umbau der Infrastruktur: «Wir werden das Geschwindigkeitsniveau, das Verkehrsnetz und das Gebühren- und Steuersystem umgestalten müssen. Attraktiv kombiniert, können öffentlicher Verkehr, Velos, E-Scooter, Mikromobile und Fusswege das Privatauto funktional wie emotional ersetzen.» Gute Velowege würden eine spürbare Verlagerung von Kurzstreckenautofahrten bewirken.
Laut dem Forscher fehlte aber bisher der Mut zur Umsetzung solcher Massnahmen. Das sehen die Verantwortlichen in Helsinki und Oslo gleich. Sie sind überzeugt, dass der Verkehr sicher gemacht werden kann – wenn die Politik es will.