Unter dem Titel «Mythen und Märchen auf dem Teller» erschien in der «Sonntags-Zeitung» am 8. September ein ganzseitiger Artikel, aufgemacht wie ein ganz normaler redaktioneller Beitrag. «Wir räumen mit den 13 häufigsten Food-Märchen auf», versprach die Unterzeile – und die Leser durften sich auf Aufklärung freuen. Drei Viertel der Schweizer Nutztiere hätten regelmässig Auslauf im Freien, hiess es im Artikel. Und sogar das Platzangebot der Stalltiere sei gesetzlich geregelt. Wie wunderbar!
Fakt ist aber: Von «drei Vierteln» kann zumindest bei den Masthühnern keine Rede sein. Von den 67 Millionen Poulets, die jedes Jahr in der Schweiz geschlachtet werden, haben nur 5 Millionen Auslauf ins Freie. Und das Platzangebot im Stall ist zwar tatsächlich geregelt – jedem Huhn steht aber nur die Fläche von der Grösse eines A-4-Blatts zu (saldo 20/2018).
Von Lobbyorganisation bezahlter Artikel
Am Schluss des Artikels in der «Sonntags-Zeitung» wurde klar, wem der Artikel dienen soll. Dort fand sich unauffällig der Hinweis, dass der Beitrag in Zusammenarbeit mit Pro-viande entstanden sei. Proviande ist die Lobbyorganisation der Fleischproduzenten. Sie erhält vom Steuerzahler jährlich sechs Millionen Franken, damit sie Werbung für Schweizer Fleisch machen kann («K-Tipp» 12/2015). Rechts oberhalb des Titels stand kleingedruckt: «Tamedia Commercial Publishing».
Die als Journalismus getarnte Werbung der Fleischlobby war nicht nur in der «Sonntags-Zeitung», sondern auch bei «20 Minuten» (ebenfalls Tamedia) und «Blick online» (Ringier) zu lesen. Bei den «20-Minuten»-Lesern lösten die «Sieben Fleisch-Irrtümer» eine Flut von über 700 Kommentaren aus. Leser Victor B. ärgert sich: «Informationswert gleich null!» Ein anderer Leser schreibt von «gesponserten Lügen», während Leser Frank festhält: «Die Fleischindustrie sieht ihre Felle davonschwimmen. In ihrer Verzweiflung schaltet sie solche Propagandaartikel mit lauter Halbwahrheiten.»
Beliebt bei Autoherstellern, Banken und Grossverteilern
In derselben Ausgabe der «Sonntags-Zeitung» findet sich in in der Rubrik «Gesellschaft» im redaktionellen Layout ein Werbebeitrag von Fooby, der Kulinarikplattform von Coop. Titel: «Was das Schlemmerherz begehrt».
Auch der «Tages-Anzeiger» verbirgt immer mehr Werbung im redaktionellen Gewand. Am 7. September klärt ein Journalist eine Seite lang über das Investieren in Aktien und Obligationen auf. Nur wer ganz rechts unten auf der Seite das Kleinstgedruckte liest, erfährt, dass Genève Invest für die Texte verantwortlich ist.
Zwei Tage später lautet der Titel im «Tages-Anzeiger» auf Seite 7: «Wo die Schweiz ein wenig anders tickt». Der Untertitel verspricht einen Besuch «in der Wiege der Schweizer Uhrmacherei». Tatsächlich ging es bei diesem Beitrag um die Automarke Mazda. Im Mittelpunkt steht das Paar Melanie und Flo mit einer «treuen Fangemeinde von mehreren Tausend Followern» auf Facebook. «Melanie und Flo machen sich auf in Richtung Neuenburgersee, wo der Mazda CX-5 auch auf kurvigen Landstrassen wie auf Schienen fährt», heisst es im «Tages-Anzeiger» bewundernd.
Verlage haben spezialisierte Abteilungen aufgebaut
Mittlerweile setzen viele Medienhäuser auf diese Form von Werbung. Manche haben wie Tamedia eine eigene Abteilung dafür. «Brand Studio» heisst sie etwa beim Verlag Ringier, der den «Blick» herausgibt, und «Content Solutions» bei der NZZ. Das Konzept ist immer das Gleiche: Die Leser sollen das Gefühl haben, dass sie einen redaktionellen Artikel von unabhängigen Journalisten lesen. Die Artikel sehen gleich aus wie normale journalistische Beiträge, sind aber nichts anderes als von Firmen bezahlte Werbung.
Tamedia definiert diese Art von Werbung auf ihrer Website freimütig als «bezahlte Werbung, die sich weder durch ihren Inhalt noch durch ihre Form wesentlich von einem herkömmlichen journalistischen Inhalt unterscheidet». Gegenüber saldo sagt eine Tamedia-Sprecherin, das «Commercial Publishing» sei genügend klar gekennzeichnet.
Eine Erhebung der Universität Zürich kam vor zwei Jahren zum Schluss, dass Jugendliche kaum zwischen redaktionellen Inhalten und journalismus-ähnlichen Werbeformaten unterscheiden können. Und gemäss dem Branchenmagazin «Werbewoche» von 2018 kamen zwei US-amerikanische Studien zum Schluss, dass sogar bei Warnhinweisen wie «sponsored» die meisten Leser die versteckte Werbung nicht erkennen.
In der Schweiz wacht der Presserat über die Einhaltung des für alle Journalisten gültigen Kodexes, der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Wörtlich heisst es dort in Richtlinie 10: «Inserate und bezahlte oder durch Dritte zur Verfügung gestellte Inhalte sind gestalterisch von redaktionellen Beiträgen klar abzuheben. Journalistinnen und Journalisten dürfen diese Abgrenzung nicht durch Einfügen von Schleichwerbung in der redaktionellen Berichterstattung unterlaufen.» Und: «Journalisten redigieren keine interessengebundenen Texte (Werbung und Public Relations).»
Zur aktuellen Praxis der Grossverlage fand der Presserat im Mai deutliche Worte. Kommerzielle Inhalte, die so gestaltet sind, dass sie nicht als solche erkannt werden sollen, zeugten von einem «Mangel an Respekt vor der Leserschaft». Und: «Die Erwähnung ‹Anzeige› reicht nicht aus, um Unklarheiten über den Werbecharakter des Inhalts zu beseitigen. Solche Texte untergrüben «die Glaubwürdigkeit des Journalismus, eine Glaubwürdigkeit, ohne die er seinen Sinn verliert».