Das Bundesgericht ist die höchste juristische Instanz der Schweiz. Umso erstaunlicher ist das gesetzliche Anforderungsprofil für den wichtigen Job: Kandidaten müssen stimmberechtigt sein, mehr nicht. Faktisch brauchen sie auch ein Parteibuch.
Grund: Die Bundesrichter werden vom Parlament gewählt. Dort verteilen die Parteien die Richtersitze untereinander nach Parteienproporz. Das steht so in keinem Gesetz. Es handelt sich um informelle Absprachen unter den grössten Parteien.
So lautet die aktuelle Zauberformel für das Bundesgericht: 10 SVP, 9 SP, 7 CVP, 6 FDP, 4 GPS, 1 GLP und 1 BDP. Seit 1953 gab es keinen parteilosen Bundesrichter mehr. Zum Vergleich: Nur etwa 5 Prozent der stimmberechtigten Schweizer sind Mitglied einer Partei.
Parteilose haben praktisch keine Wahlchance
Diese Wahlpraxis ist nicht nur bei den eidgenössischen Gerichten die Regel, sondern auch in fast allen Kantonen. Sie bewirkt, dass Parteilose kaum Chancen haben – selbst wenn sie hervorragend qualifiziert sind. Dasselbe trifft auf Kandidaten mit falscher Parteizugehörigkeit zu, wenn der frei werdende Sitz einer anderen Partei zufällt. Das richtige Parteibuch ist für den Richterjob somit wichtiger als die fachliche Qualifikation. Selbst internationale Organisationen kritisieren das (siehe Unten).
Doch damit nicht genug. Die Parteien verteilen die Richtersitze nicht selbstlos. Sie verlangen von den Kandidaten, dass sie im Falle der Wahl einen bestimmten Betrag ihres Lohns an die Parteikasse abliefern. Und zwar jedes Jahr. Sämtliche grossen Parteien regeln das in ihren Statuten. In der Juristensprache heisst der Ämterhandel «Mandatssteuer».
Giuliano Racioppi ist Richter am Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Er sagt: «Diese Mandatssteuer ist europaweit und wohl weltweit einzigartig.» Der Bündner Jurist wollte wissen, wie die Parteien die Mandatssteuer regeln und was die Richter davon halten. Zudem hat Racioppi erstmals fundierte Zahlen zur aktuellen Höhe der von den Parteien bei den eidgenössischen Richtern erhobenen Steuern zusammengestellt.
Seine in der «Richter-Zeitung» publizierte Studie zeigt: Ein von den Sozialdemokraten vorgeschlagener Bundesrichter liefert seiner Partei jedes Jahr rund 13 000 Franken ab, bei den Grünen sind es gar 20 000 Franken, ein SVP-Richter zahlt 7000 Franken (siehe Tabelle im PDF). Am tiefsten ist der Obolus bei den Freisinnigen mit 3000 Franken. Zum Vergleich:
Ein Richter am Bundesgericht verdient heute brutto 356 000 Franken (80 Prozent eines Bundesratslohns).
Von den total 84 angefragten eidgenössischen Richtern beantworteten nur 30 den kurzen Fragenkatalog des Bündner Kollegen. Von den Bundesrichtern gaben 13 von 37 Auskunft. Racioppi sagt dazu: «Einige Richter wollten sich bewusst nicht zur Thematik äussern – wohl im Wissen darum, dass es ein heikles Thema ist. Und vielleicht deshalb, weil sie diese Zahlung im Unterbewusstsein für moralisch nicht korrekt halten.» Mehrere Richter hätten auch eingeräumt, dass mit der Mandatssteuer der Eindruck entstehen könne, die Richter würden ihr Amt kaufen.
Wer nicht zahlt, riskiert seine richterliche Karriere. Gegenüber der Juristenzeitschrift «Plädoyer» führte Racioppi aus: «Mehrere Richter des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bestätigten mir, dass sie die Mandatssteuer bezahlen, weil sie im Falle einer Nichtzahlung keine Chance hätten, später einmal ans Bundesgericht gewählt zu werden.» («Plädoyer» 1/2018).
Laut dem ehemaligen Obwaldner Bundesrichter Niccolò Raselli erweckt die Mandatssteuer den Anschein, dass Richterkandidaten nach der Wahl ihrer Partei zu Dank verpflichtet seien: «Dieser Anschein ist mit der von der Verfassung geforderten richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar.»
Anderer Ansicht ist der Baselbieter SP-Ständerat Claude Janiak: Bei der SP müsse jeder, der ein Amt in der Justiz oder in der Politik bekomme, eine Mandatssteuer leisten. Janiak: «Davon lebt die Partei – neben den Mitgliederbeiträgen.» Tatsächlich: Laut Racioppis Studie belaufen sich die Einnahmen aus den Mandatssteuern auf Bundesebene bei der SP auf jährlich rund 230 000 Franken. Bei den Grünen sind es rund 132 000 Franken – das sind immerhin mehr als 10 Prozent der gesamten Parteieinnahmen. Die kantonalen Richter zahlen an die kantonalen Parteien.
«Richteramt de facto von einem Parteienkartell erkauft»
Raselli führt die Mandatssteuer auf die Finanznot der Parteien zurück. In der «Richter-Zeitung» schreibt er: «Solange es keine offizielle Parteienfinanzierung gibt, haben Parteien – zumal jene ohne Interessenverbindungen zur Banken-, Versicherungs- und Finanzwelt – ein eminentes Interesse an dieser Art der Finanzierung.»
Die Organisation Transparency International Schweiz hielt 2013 im Bericht «Korruption und Korruptionsbekämpfung in der Schweiz» fest: «Wirtschaftlich betrachtet müssen sich die Richter in der Schweiz de facto ihr Richteramt von einem politischen Parteienkartell erkaufen.» Dieselben Parteien seien aber in Legislative und Exekutive dominierend – jene Gremien, die eigentlich durch eine unabhängige Justiz im Zaum gehalten werden sollten.