Ausflügler benutzen am 11. Februar 2016 den Sessellift «Chrüz-Stelli» am Flumserberg SG, als nach 15 Uhr ein Vierersessel abstürzt – laut Augenzeugen knapp neben die Skipiste. Der Sessel fuhr gerade talwärts. Beim dritten Mast nach der Bergstation hatte sich die Klemme gelöst, mit welcher der Sessel am Seil befestigt war. Beim Unfall sass niemand auf dem Sessel.
Es könnte wieder passieren, dass sich Seilbahnklemmen unbemerkt öffnen – und das bei Tausenden von Sesseln und Gondeln weltweit. Das zeigen Recherchen von saldo. Nach dem Seilbahnunglück auf dem Monte Mottarone am Lago Maggiore Ende Mai in Italien, bei dem 14 Menschen das Leben verloren, nahm saldo sämtliche Untersuchungsberichte zu Seilbahnabstürzen seit dem Jahr 2010 in der Schweiz unter die Lupe.
Ergebnis: Im letzten September warnte die Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust das zuständige Bundesamt für Verkehr vor einem «Sicherheitsdefizit» bei den Klemmen von Sesseln und Gondeln des weltgrössten Seilbahnherstellers Doppelmayr Garaventa. Die Seilbahnen können gemäss Sust trotz offener Klemmen abfahren, wenn die Überwachungstechnik versagt. Folge: Die Seilbahn rutscht unkontrolliert auf dem Seil, die Klemmen halten den Sessel oder die Gondel nicht mehr.
Die Bergbahnen Flumserberg setzten 2016 bei den Klemmen des Sessellifts ein Bauteil ein, von dem Doppelmayr Garaventa in einem Kundenbulletin abgeraten hatte: Die Klemme des Sessels schloss sich bei der Abfahrt aus der Bergstation nur halb. Das Sicherheitssystem registrierte den Defekt nicht und liess den Sessel trotz offener Klemme abfahren.
«Wir haben festgestellt, dass wieder ein Sessel oder eine Gondel abstürzen könnte», sagt Sust-Untersuchungsleiter Christoph Kupper. Deshalb rief die Untersuchungsstelle im vergangenen Herbst das Bundesamt für Verkehr in einer offiziellen «Empfehlung» auf, bei den Seilbahnbetreibern Nachweise einzufordern, dass Bahnen künftig nicht mehr abfahren können, falls die Klemmen schlecht schliessen.
Viele Seilbahnen verwenden problematische Klemmen
Betroffen sind laut dem Bundesamt sogenannte «Totpunktklemmen» vom Typ AK 2, AK 3, AK 4, AK 5 und AK 6. Die Klemme AK 4 wird am Flumserberg eingesetzt. Gemäss der Seilbahndatenbank der Plattform Bergbahnen.org benutzen über 150 Sessel- und Gondelbahnen in der Schweiz den problematischen Klemmentyp. Doppelmayr Garaventa spricht gegenüber saldo von 52 betroffenen Schweizer Seilbahnanlagen. Es handelt sich vorwiegend um häufig genutzte Seilbahnen in auch im Sommer beliebten Wandergebieten – etwa in Lenzerheide, Flims Laax Falera, Davos und im Engadin (alle GR) oder in Grindelwald BE.
Auf Anfrage von saldo schreiben mehrere Seilbahnen, sie würden sich an neue Sicherheitshinweise von Doppelmayr Garaventa halten, die Klemmen seien daher sicher. Die Bahnen Flumserberg sagen, sie hätten nach dem Unfall sofort auf die neuen technischen Erkenntnisse reagiert. Auch vor dem Absturz habe man sich an die Betriebsanleitung von Doppelmayr Garaventa gehalten. Die Betreiber der Jungfraubahn fügen an, laut den Angaben des Herstellers und der Behörden bestehe kein Grund, auf andere Klemmen umzusteigen. Und die Betreiber der Seilbahnen in Flims Laax Falera erwähnen, Klemmen vom Typ AK 2 bis 6 würden bei neuen Bahnanlagen nicht mehr eingesetzt.
Die Pressestelle von Doppelmayr Garaventa erfuhr durch saldo vom Unfalluntersuchungsbericht der Schweizer Behörden. Sprecher Andreas Bonifazi schrieb zuerst: «Leider weiss ich nichts von diesem Bericht.» Zwei Tage später fügte er an, Garaventa habe nach dem Vorfall in den Flumserbergen 2016 allen Seilbahnen Informationen zu Wartung und Instandhaltung der Klemmen geschickt.
Es ist unklar, ob Bahnbetreiber Sicherheitshinweise umsetzten
Das Bundesamt für Verkehr informierte inzwischen die Aufsichtsbehörden anderer Länder über die Sicherheitswarnungen der Sust. Gegenüber saldo hält das Amt fest, die Klemmen würden zuverlässig schliessen, wenn sich die Bahnbetreiber an die Instruktionen von Doppelmayr Garaventa halten. Klar ist aber: Kommt es bei den Klemmen zu einem Defekt, kann die Seilbahn trotzdem losfahren. Zudem ist ungewiss, ob alle Bahnbetreiber die Empfehlungen umsetzten.
Das Bundesamt will das kontrollieren, lässt sich aber Zeit: «Die Überprüfung erfolgt jeweils bei der nächsten Überwachung der betroffenen Betreiber. Die Intervalle bewegen sich zwischen einem und fünf Jahre.» Das Amt sieht in erster Linie die Bahnen in der Pflicht: «Die Verantwortung für einen sicheren Betrieb der Seilbahnen trägt grundsätzlich der Betreiber.» Im Klartext: Die Bahnbenützer können nur hoffen, dass die Betreiber das Problem möglichst bald beheben. Am Monte Mattarone war auf die Selbstkontrolle des Unternehmens allerdings kein Verlass.