Schon am sechsten Arbeitstag fand sich die neue Vertriebsmitarbeiterin in einem Operationssaal wieder. «Sie ging davon aus, dass sie bei Operationen jeweils nur als stille Beobachterin dabei sein werde», erklärt ihr Anwalt der Einzelrichterin am Arbeitsgericht Luzern. Dann habe sich aber herausgestellt, dass die Implantatfirma von ihr eine aktive Rolle bei Eingriffen an der Wirbelsäule erwarte – zum Beispiel, Elektroden am Körper des Patienten anzubringen, Nadeln unter die Haut zu stecken oder ein Überwachungsgerät zu bedienen. Und mit dem Anästhesisten hätte sie künftig auf dem Röntgenbild der Wirbelsäule Operationspunkte identifizieren müssen und besprechen sollen, welche Medikamente der jeweilige Patient einnimmt.
Die Klägerin sei zuvor Zahnarzthelferin gewesen, sagt der Anwalt: «Doch Zahnmedizin und Wirbelsäulenchirurgie haben wenig gemeinsam.» Aufgrund des Stellenbeschriebs habe sie keine selbständigen Arbeiten am Patienten erwartet. Dort sei nur von einer «Unterstützung» bei chirurgischen Operationen die Rede gewesen. Ein Schnuppertag im OP-Saal habe diese Annahme bestätigt.
«Meine Mandantin hätte die Stelle nicht angenommen, wenn sie gewusst hätte, dass aktive Arbeiten am Patienten erwartet werden», betont der Anwalt. Deshalb sei es völlig richtig gewesen, dass sie diese Arbeiten verweigerte. Und es sei missbräuchlich, dass die Medizinaltechnikfirma der Luzernerin deswegen nach gut drei Wochen noch in der Probezeit gekündigt habe. Deswegen fordert der Anwalt vom Unternehmen einen Monatslohn von gut 12 000 Franken als Entschädigung.
Der Anwalt der Medizinaltechnikfirma bestreitet diese Darstellung vehement. Er beantragt, die Klage abzuweisen. Kündigungsgrund sei neben der Verweigerung der «Arbeiten an Patienten» auch die schwierige Zusammenarbeit mit der ehemaligen Mitarbeiterin gewesen. Aufgrund ihres destruktiven Verhaltens seien Auseinandersetzungen oft eskaliert.
Wahrnehmung der Parteien unterscheidet sich völlig
Die Stellenanzeige habe klargemacht, dass Tätigkeiten im Operationssaal zu den Aufgaben gehören würden, plädiert der Anwalt weiter. Im detaillierteren Stellenbeschrieb stehe klar, dass der Job die Aneignung medizinischer Fertigkeiten umfasse. Alle neuen Angestellten würden mindestens ein Jahr lang für die Aufgaben ausgebildet. In der Anlernphase müsse niemand selbständig Geräte bedienen. Beim Schnuppertag im Operationssaal habe eine erfahrene Mitarbeiterin während einer fünfstündigen Operation sorgfältig aufgezeigt, was alles zum Aufgabenbereich gehöre.
Nach einer Stunde ist klar: Die Wahrnehmung der Parteien unterscheidet sich diametral. Hat der Arbeitgeber die neue Angestellte falsch informiert? Oder gab es Missverständnisse, weil die Anstellung in Coronazeiten aufgrund von Gesprächen per Videokonferenz erfolgte?
Eine Klärung erhofft sich das Arbeitsgericht durch die Mitarbeiterin, welche die Klägerin am Schnuppertag eingeführt hatte. Doch die Frau erkrankte kurz vor der Verhandlung. Die Richterin erwägt deshalb, einen zusätzlichen Verhandlungstag anzusetzen, um die Zeugin zu befragen. Dadurch würden aber die Anwaltskosten steigen – was vor allem die Medtechfirma in Zugzwang bringt. Denn die Klägerin muss den Anwalt nicht selbst zahlen: Das übernimmt ihre Rechtsschutzversicherung.
Die beiden Streitparteien einigen sich schliesslich auf einen Vergleich. Das Verfahren ist damit erledigt. Zum Inhalt geben sie nichts bekannt. Erfahrungsgemäss trifft man sich bei Vergleichen aber etwa in der Mitte.
Begründung der Kündigung verlangen
Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses kann in wenigen, vom Gesetz aufgezählten Fällen missbräuchlich sein. Beispiel: Sie erfolgt, um Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis zu vereiteln oder aufgrund der gewerkschaftlichen Tätigkeit eines Angestellten.
Wer der Ansicht ist, eine Entlassung sei missbräuchlich, sollte umgehend eine schriftliche Begründung der Kündigung verlangen. Zudem ist eine schriftliche Einsprache gegen die Kündigung nötig, die bis am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses beim Arbeitgeber eintreffen muss. Anschliessend läuft eine Frist von 180 Tagen, um eine Entschädigung geltend zu machen.