Den Zahnarzttermin vom 16. April 2018 werde sein Mandant niemals vergessen, sagt der Anwalt vor der Einzelrichterin des Regionalgerichts Bern-Mittelland in Bern. Der Zahnarzt habe einen Gebissabdruck des 79-Jährigen erstellen müssen, um in einer späteren Behandlung eine Zahnlücke zu schliessen. «Heute macht man das eigentlich digital», erläutert der Anwalt. Der Zahnarzt, der bald das Rentenalter erreicht, habe aber zu «einem etwas altmodischen Verfahren» gegriffen. Dabei beisst der Patient einige Minuten auf eine blaue Kunststoffmasse, die sich in dieser Zeit verfestigt. Der Zahnarzt verwendet die Masse dann als Gussform für den Modellabdruck.
Beim Gebissabdruck tropfte Kunststoffmasse in den Rachen
Bei seinem Mandanten sei aber etwas schiefgelaufen, schildert der Anwalt: «Die Kunststoffmasse tropfte nach hinten in den Rachen.» Der Rentner habe versucht, den Fremdkörper auszuspucken. Das sei aber nicht möglich gewesen, weil ihm der Zahnarzt die Hand auf den Mund gepresst habe, um die Verfestigung der Abdruckmasse abzuwarten. Das habe ein, zwei Minuten gedauert. Die Masse sei in Speiseröhre und Luftröhre steckengeblieben.
Nun holt der Anwalt einen Plastikbeutel hervor und schwenkt ihn in der Luft. Darin liegt ein blauer Kunststoffpfropf: das Corpus delicti. Er übergibt es der Einzelrichterin als Beweismittel. Die Grösse entspreche einem halben Weinzapfen, fährt er fort: «Der 79-Jährige konnte nicht mehr atmen, er zappelte auf dem Stuhl mit den Beinen. Die hinzueilende Praxisassistentin habe die Ambulanz alarmiert. Mit Blaulicht und Sirene ging es ins Berner Inselspital. Dort wurde das Stück unter Vollnarkose entfernt. Nur mit viel Glück habe sein Mandant überlebt. Der Pfropfen sei so tief im Hals gesteckt, dass nur noch wenig Atemluft durchkam.
Verteidigung: «Es bestand nie Erstickungs- oder Todesgefahr»
Wegen des Behandlungsfehlers wäre sein Mandant um ein Haar erstickt, sagt der Anwalt: «Dieses Trauma verfolgt ihn bis heute. Jedes Mal, wenn er sich verschluckt, kommt das Erlebnis der Todesgefahr wieder hoch.» Mit der Haftungsklage fordere sein Mandant vom Zahnarzt 7500 Franken. Davon entfallen gut 500 Franken auf den Selbstbehalt an den Spital- und Ambulanzkosten und knapp 7000 Franken auf eine Genugtuungsentschädigung «zum Ausgleich des seelischen Schadens».
Der Anwalt des Zahnarztes stellt den Vorfall anders dar. Der Zahnarzt habe sorgfältig gearbeitet und nicht gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstossen. Bei jedem Eingriff könne es zu Komplikationen kommen. «Dass etwas Kunststoffmasse in den Rachen geriet, stellt keinen Behandlungsfehler dar», sagt der Anwalt. «Der Vorfall war sicherlich unangenehm und nicht erfreulich, aber es bestand nie Erstickungs- und Todesgefahr.»
Laut dem Plädoyer des Anwalts wäre es möglich gewesen, den Fremdkörper in der Praxis zu entfernen, wenn es der Patient zugelassen hätte. Doch man habe eine Ambulanz bestellt, weil grosse Aufregung entstanden sei. Im Spital sei keine Operation nötig gewesen: Der Anästhesist habe den Fremdkörper entfernen können. Überdies fehle es an den Voraussetzungen für eine Genugtuungsentschädigung – etwa einem bleibenden Schaden. Die Gegenseite versuche, aus einer Bagatelle eine Riesengeschichte zu machen. Die Berufshaftpflichtversicherung des Zahnarztes hätte die Sache «sicher anständig geregelt».
Der Patient muss keine Gerichts- und Anwaltskosten zahlen
Der Anwalt des Patienten widerspricht: «Von der Gegenseite kam einfach nichts.» Zur Schlichtungsverhandlung sei niemand erschienen. Die Versicherung habe nie ein Angebot gemacht. Er beantragt eine Expertise, um die Frage der Erstickungsgefahr zu klären. Als sachverständige Zeugen seien der Operateur und der Oberarzt im Inselspital zu befragen. Allenfalls seien die Rettungssanitäter als Zeugen einzuvernehmen.
Die Einzelrichterin schlägt einen Vergleich vor. Erst nach mehreren Verhandlungsrunden finden sich die beiden Seiten. Der Patient erhält 3500 Franken. Er muss keine Gerichts- und Anwaltskosten zahlen: Da er in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebt, wurde ihm eine unentgeltliche Prozessführung bewilligt.
Patient muss Behandlungsfehler beweisen
Ein Arzt ist nicht für jede missglückte Operation oder Komplikation verantwortlich. Er haftet aber für Fehler.
Ein solcher liegt vor, wenn er nicht sorgfältig und fachgerecht gearbeitet hat. Vor Gericht muss der Patient dem Arzt den Fehler nachweisen.
Über die Risiken einer Behandlung müssen die Ärzte die Patienten informieren. Unterlässt der Mediziner die Aufklärung, so muss er für alle Komplikationen einstehen. Ausnahme: Der Arzt kann beweisen, dass der Patient der Behandlung auch bei korrekter Aufklärung zugestimmt hätte.