Stellen Sie sich vor: In Ihrer Gemeinde darf man Autos auf öffentlichen Parkplätzen eine Stunde lang stehen lassen. Aber viele Autos stehen dort tagelang. Denn Polizei und Gemeinde machen keine Kontrollen. Es ist ihnen egal.
Genau das tun viele Behörden beim Bau von Zweitwohnungen. Sie schauen weg. Vor sechs Jahren sagten die Schweizer Stimmbürger Ja zur Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen». Sie forderte: Mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen in einer Gemeinde sind verboten. Viele Gemeinden foutieren sich darum.
Zuoz bewilligte Zweitwohnungen bis ins Jahr 2023 – auf Vorrat
Schauplatz Zuoz GR. Der Zweitwohnungsanteil der Gemeinde beträgt 63,9 Prozent. Trotzdem wird weitergebaut. Wie ist das möglich? Noch vor der Abstimmung im März 2012 erteilten die Behörden elf Bewilligungen für Zweitwohnungen. Trotz Annahme der Initiative erteilte die Gemeinde auch die Baufreigaben. Sie ging davon aus, die im regionalen Richtplan definierten Flächen für Zweitwohnungen seien weiterhin bebaubar. Der Kreisvorstand Oberengadin sah das anders, stellte die Gemeinde quasi unter Vormundschaft und reichte bei der Kantonsregierung Beschwerde ein.
Später bekam auch die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz Wind von der Sache. Sie verlangte vom Verwaltungsgericht, die Baufreigaben aufzuheben. Im Mai 2016 gab das Gericht den Beschwerdeführern teilweise recht. In sechs der elf Fälle musste die Gemeinde die Baufreigabe zurückziehen. Es sind jene Projekte, für die Zuoz vorab für die Periode 2018 bis 2023 eine Baubewilligung erteilt hatte. Die schon «vorher bewilligten Gesuche sind im Bau», sagt Gemeindeschreiber Claudio Duschletta.
Lokaler Filz profitiert von den Bauvorhaben
Helvetia Nostra versucht, der neuen Verfassungsbestimmung über Zweitwohnungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Organisation hat von 2012 bis 2016 über 1600 Beschwerden gegen Verstösse eingereicht. «Drei Viertel der Fälle sind gutgeheissen worden», so Anne Bachmann von Helvetia Nostra.
Das Problem: Viele lokale Vertreter von Baukommissionen, Gemeinderäte und selbst kantonale Regierungen sind eng mit der lokalen Bau- und Immobilienlobby verbandelt. Der Bau und Verkauf von Ferienwohnungen an finanzkräftige Touristen ist für Gemeinden, Bau- und Immobilienfirmen ein dickes Geschäft – Zweitwohnungsinitiative hin oder her. Alle profitieren, alle sind zufrieden. Bachmann sagt: «Wo kein Kläger, da kein Richter.»
Die Beschränkung des Zweitwohnungsbaus auf Gemeinden mit weniger als 20 Prozent kalten Betten wird trickreich umgangen. Etwa in La Tzoumaz, das zur Walliser Gemeinde Riddes gehört: Dort waren fünf Chalets angeblich als Touristenunterkünfte geplant. Helvetia Nostra überzeugte das Kantonsgericht davon, dass es sich um eine Finte handelt. Die Réception befand sich ausserhalb der Chalets. Es gab kein Restaurant, kein Schwimmbad, keinen Fitnessraum, kein Frühstücksangebot, keine Bettwäsche und keine Duschtücher.
Im Januar hob das Bundesgericht auf Antrag von Helvetia Nostra die Bewilligungen der Gemeinde Bagnes VS für drei Luxus-Chalets in Verbier auf, in denen angeblich Erstwohnungen für die ortsansässige Bevölkerung entstehen sollten. Es sei unwahrscheinlich, dass die Wohnungen je als Hauptwohnsitz dienten, hielt das oberste Gericht fest. Bei den Projekten handle es sich um «verdeckte Zweitwohnungen». In Verbier sank die Einwohnerzahl von 2013 bis 2016 um 44 Personen – im gleichen Zeitraum waren 49 vergleichbare Bauobjekte zum Verkauf ausgeschrieben. Das Bundesgericht sieht deshalb keine Nachfrage nach Luxus-Erstwohnungen. Es hielt fest, die Gemeinden müssten anhand konkreter Beweise aufzeigen, dass die Wohnungen von Leuten erworben werden, die sie ganzjährig nutzen. Sonst sei keine Bewilligung für Erstwohnungen möglich.
«Landschaft und Umwelt haben keine Stimme»
Anne Bachmann durchstöbert «Tag für Tag» die Amtsblätter nach Baugesuchen. Sie kümmert sich vorab um die Kantone Wallis und Waadt. Zu mehr reichen die Mittel von Helvetia Nostra nicht. Aussen vor bleibt etwa der Tourismuskanton Tessin.
Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Uni Zürich, fasst die Situation diplomatisch so zusammen: «Wenn Nutz- und Schutzinteressen gegeneinander abzuwägen sind, haben Nutzinteressen häufig die grössere Durchsetzungskraft.» Anders als Bauherren und Unternehmen hätten Landschaft und Umwelt keine Stimme.
Umso wichtiger ist laut Professor Markus Schefer von der Uni Basel das Beschwerderecht von Umweltorganisationen: «Wenn die Bewilligungsbehörden Interessen verfolgen, die dem Natur-, Heimat- und Umweltschutz zuwiderlaufen, kann so sichergestellt werden, dass das anwendbare Recht richtig umgesetzt wird.»
Griffel stimmt dem zu. Verbandsbeschwerden hätten zudem eine präventive Wirkung: «Die rechtlichen Anforderungen an ein Projekt werden häufig von Anfang an besser eingehalten und besser überprüft. Auf rechtlich fragwürdige Projekte wird mitunter ganz verzichtet.»
Tatsächlich: Die Zahl der Beschwerden sank von 2013 bis heute von jährlich 1000 auf weniger als 100. «Immer noch viel zu viel», findet Anne Bachmann. Gespannt wartet sie auf ein Urteil des Waadtländer Kantonsgerichts. Helvetia Nostra reichte 2017 Beschwerde ein gegen ein Luxus-Chalet mit Schwimmbad, Wellness und Partyraum für 5,3 Millionen Franken in Villars-sur-Ollon. Die Gemeinde hat einen Zweitwohnungsanteil von 54,8 Prozent. «Der Preis ist für einen Hauptwohnsitz sehr hoch», so Bachmann. Kommt hinzu, dass ein Blick auf www.comparis.ch zeigt, dass in der Gegend momentan über 300 Wohnungen und Chalets zum Verkauf angeboten werden.
Zweitwohnungsanteil nachschauen: Saldo.ch/zweitwohnungen Gemeindename eintippen, in der Auswahl «Ort + Gemeindename» wählen, rotes Fähnchen anklicken