Unnütze Behandlungen gibt es viele. Kniepatienten mit Kreuzbandrissen kommen oft unter das Messer. Krankengymnastik würde sie jedoch genauso schnell wieder auf die Beine bringen – und erheblich günstiger. Eine neue Prüfstelle beim Bundesamt für Gesundheit soll nun ineffiziente kassenpflichtige Behandlungen aufspüren. Die zehn Mitarbeiter vergeben entsprechende Aufträge an externe Experten. Dafür stehen pro Jahr sechs Millionen Franken bereit. Steht die Ineffizienz einer Behandlung fest, will der Bund sie aus dem Katalog der Leistungen der Grundversicherung streichen.
Ein Blick auf die Krebspräparate dürfte sich besonders lohnen. Eine Therapie kostet schnell bis zu 50 000 Franken. Krebsmittel belasteten die Grundversicherung 2014 mit 650 Millionen Franken. Eine neue, noch unveröffentlichte Studie des Ludwig-Boltzmann-Instituts in Wien stellt jedoch fest, dass die meisten dieser Medikamente nur wenig bringen. Die Forscher untersuchten 73 Präparate, die von 2009 bis 2015 zugelassen wurden. Nur jedes sechste verlängert das Leben der Patienten um mehr als hundert Tage, 39 Prozent weniger lang. Für 45 Prozent gab es keinen Beweis eines Nutzens (saldo 9/16).
Die Forscher berücksichtigten auch die Bewertungen von diversen ausländischen Prüfinstituten (siehe Kasten): 14 Medikamente schnitten stets schlecht ab. Dazu gehören Tyverb gegen Brustkrebs und Tafinlar gegen gewisse Hautkrebsformen (beide Novartis), das Lungenkrebs-Mittel Tarceva sowie gewisse Brustkrebs-Anwendungen von Avastin (beide Roche). Schlechte Noten bekamen das Lungenkrebs-Medikament Iressa von Astra-Zeneca sowie Vectibix von Amgen, das einzelnen Darmkrebskranken helfen soll.
Millionenbeträge für fragwürdige Krebsmittel
Schweizer Ärzte haben freie Hand, diese Medikamente zu verordnen. Im letzten Jahr kosteten die Verordnungen der acht Mittel laut Krankenkassenverband Santésuisse die Grundversicherung 16,7 Millionen Franken. Rechnet man die Ausgaben von 2011 bis 2014 hinzu, gaben die Prämienzahler 74,5 Millionen Franken für Krebsmittel aus, die im Verdacht stehen, nichts zu nützen. Hinzu kommen zweifelhafte Avastin-Verschreibungen, die sich nicht beziffern lassen.
Die Hersteller halten daran fest, dass ihre Präparate wirksam seien. Sie verweisen auf eigene Studien, die das bewiesen hätten. Viele Gesundheitsbehörden hätten zudem ihren klinischen Nutzen anerkannt. Nicht zuletzt habe auch das Bundesamt für Gesundheit die «Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit» dieser Präparate bestätigt.
Santésuisse-Medikamentenexperte Andreas Schiesser fordert vom Bund, die Kassenpflicht der umstrittenen Präparate zu überprüfen: «Wir können das Geld sinnvoller verwenden.»
Hinweise von Patienten aufnehmen
Bis dahin kann es jedoch dauern. Ein Prüfverfahren abzuschliessen braucht laut Bundesamt für Gesundheit bis zu zwei Jahre. Das Team hat bislang drei Untersuchungen gestartet, zu Kniearthroskopien, Wirbelsäuleneingriffen und Eisenpräparaten. Im Juli sollen zwei Themen hinzukommen.
Sara Stalder von der Stiftung für Konsumentenschutz SKS befürchtet, dass die Prüfstelle nur unbedeutende Einzelleistungen statt grosser Ausgaben unter die Lupe nimmt. Andreas Schiesser von Santésuisse fordert, gut belegte Erkenntnisse ausländischer Institute rasch zu übernehmen: «Wir müssen das Rad nicht neu erfinden.»
Schiesser wie Stadler wollen, dass sich Patienten einfacher mit Vorschlägen beteiligen können. Heute kann zwar jeder auf der Homepage des Bundesamtes kassenpflichtige Leistungen zur Überprüfung vorschlagen. Man muss dazu aber einen fünfseitigen Fragebogen ausfüllen und seine Fragen «nach der PICO-Methode» begründen oder Zahlen zu «Inzidenz/Prävalenz» nennen. Stalder kritisiert: «Das schaffen nur Experten.» Das Bundesamt verteidigt sein kompliziertes Prozedere: Die «Hürde» sei nötig, damit sich das Team um die «relevanten» Themen kümmern könne.
Ein Fünftel unnütz ausgegeben
In fast allen europäischen Ländern bewerten unabhängige Institute seit Jahren den Nutzen und die Kosten von medizinischen Behandlungen. Experten nennen dieses Verfahren HTA. Das Kürzel steht für «Health Technology Assessment», auf Deutsch: Bewertung von Gesundheitstechniken.
Ein Vorbild für viele HTA-Institute ist das englische National Institute for Health and Care Excellence, das seit 1999 die Effizienz von Therapien beurteilt. Das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen prüft seit 2004 vor allem den Nutzen von Medikamenten und Operationstechniken.
Bundesrat Alain Berset plante 2012 ein nationales «Qualitätszentrum für das Gesundheitswesen». 30 Mitarbeiter sollten mit einem Jahresbudget von 32 Millionen Franken den Leistungskatalog durchkämmen. Ärzte, Spitäler und Krankenversicherer liefen dagegen Sturm.
«Leistungserbringer wollen keine Transparenz», kommentiert Sara Stalder von der Stiftung für Konsumentenschutz. Sie haben viel zu verlieren: Das Bundesamt für Gesundheit schätzt das «Effizienzpotenzial» im Gesundheitswesen auf 20 Prozent. Unabhängige Experten sprechen von 30 Prozent und mehr. Kurz: Das Gesundheitswesen verschwendet mindestens jeden fünften Prämienfranken für unnütze Behandlungen.