Der Patient auf der Intensivstation des Basler Unispitals ist Mitte 70. Als er nach der schweren Operation aufwacht, fragt er den Pfleger: «Haben Sie gesehen? In der Zeitung war heute meine Todesanzeige.» Dem Pfleger war klar: Der Mann leidet an einem Delir. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet «aus der Spur geraten».
Ein 80-jähriger Patient ein paar Betten weiter wusste auch Tage nach dem Eingriff nicht, wo er sich befand. Er redete wirr. Sein Bruder erzählt, dass der Mann bisher allein gelebt und den Alltag gut bewältigt habe – ohne Anzeichen einer Demenz.
Viele glauben, im Spital vergiftet zu werden
Ein Delir lässt sich oft nicht leicht erkennen. Manche Patienten dämmern apathisch im Bett vor sich hin. Andere schlagen plötzlich wild um sich, ziehen an den Schläuchen, beschimpfen Krankenschwestern. Für Alois Haller, Chefarzt der Intensivstation des Winterthurer Kantonsspitals, ist Delir «unser tägliches Brot». 30 bis 80 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen in Schweizer Spitälern erleben laut Studien Phasen akuter Verwirrung. Jeder fünfte Patient in einem Schweizer Spital leidet an dieser Erkrankung, bei Hüftoperierten jeder dritte, unter den Herzpatienten gar jeder zweite.
Früher verwechselten Schweizer Ärzte ein Delir oft mit einer Demenz, dem schleichenden Abbau der Denkleistung. Laut dem Basler Pflegewissenschafter Wolfgang Hasemann verlieren Patienten mit einem Delir aber «den Anker zur Realität oft nur zeitweilig». Betroffene könnten Informationen nicht mehr filtern und einordnen. Sie denken unlogisch, verstehen die Welt nicht mehr, ihr Gedächtnis streikt. Patienten berichten im Nachhinein, dass sie Wahnvorstellungen und Halluzinationen hatten. Jeder dritte Delir-Patient glaubt, die Pflegenden wollten ihn vergiften.
Ursache sind körperliche Störungen, die den Stoffwechsel im Hirn durcheinanderbringen oder dort zu Entzündungen führen. Wissenschafter kennen bis zu 100 Faktoren, die ein Delir begünstigen oder auslösen. Dazu gehören starke Schmerzen, der Stress, den eine Operation einem älteren Hirn zufügt, Atemnot, Angst, Blasenentzündung, Bluthochdruck, Sauerstoffmangel, der Entzug von Alkohol, Opiaten oder Schlafmitteln. Luzius Steiner, Leiter der Anästhesiologie des Unispitals Basel, sagt: «Fast jeder Patient hat seine eigenen Faktoren, die zum Delir führten.» Patienten über 65 erkranken öfter als jüngere.
Psychopharmaka nützen meist nichts
Die Folgen sind drastisch. Wer ein Delir hat, muss länger im Spital bleiben, stürzt eher und stirbt vermutlich auch früher. Jeder Fünfte leidet nach einem Jahr noch unter der Einschränkung seiner geistigen Fähigkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, vom Spital in ein Pflegeheim verlegt zu werden, ist fast dreimal so hoch wie unter normalen Umständen. Eine Studie von 2004 schätzte die Kosten durch Delirien in der Schweiz auf 926 Millionen Franken pro Jahr.
Gegen Delirien nützen Psychopharmaka meistens nicht. Entscheidend ist, die Auslöser früh zu erkennen und zu behandeln. Vorbeugende Massnahmen können die Anzahl der Fälle um bis ein Drittel senken. Das ist die Erfahrung der Pflegeexperten, die das «Basler Delirprogramm» entwickelten und seit 2004 am Universitätsspital Basel umsetzen. Spitäler in St. Gallen, Zürich und Bern haben das Pionierprogramm übernommen. Laut dem Leiter des Programms, Wolfgang Hasemann, steht das Problem jedoch bei vielen Spitälern noch nicht auf der Agenda. Für Intensivmediziner Alois Haller ist das Delir auf Intensivstationen oft noch ein ungelöstes Problem.
Die Pflegenden des Unispitals Basel überprüfen und bewerten auf den Betten- und Intensivstationen regelmässig, ob sich das Verhalten ihrer Patienten verändert hat. Zur Vorbeugung gehört die Bekämpfung von Auslösern wie Schmerzen, Infekten, Sauerstoff- oder Nährstoffmangel. Das Problem: Schwerkranke können oft nicht sagen, was ihnen fehlt. Pflegende brauchen viel Erfahrung, die Symptome richtig zu deuten.
Hilfreich sind auch pflegerische Massnahmen, die «Orientierung geben», wie Intensivmediziner Alois Haller sagt. Etwa indem das Pflegepersonal den Lärmpegel in der Intensivstation reduziert und die Räume nachts verdunkelt, damit die Patienten schlafen können. Delir-Patienten sollten zudem möglichst bald nach der Operation wieder auf ihre Beine bekommen. Denn körperliche Bewegung fördert einen klaren Kopf.
Experte Hasemann sieht auch den Bund in der Pflicht: Die Schweiz brauche dringend eine Delir-Statistik. Die Spitäler müssten die Anzahl der Fälle und die Wirkung von Massnahmen erfassen. Nur so lasse sich die Behandlungsqualität vergleichen und gezielt verbessern. Zugleich gehöre das Thema als Pflichtstoff in die Ausbildung und Weiterbildung von Medizinern und Pflegekräften.
So können Angehörige helfen
- Delir-Patienten oft im Spital besuchen. Ein vertrautes Gesicht kann Halt geben. Ein Besuch mit vielen Leuten überfordert die Patienten.
- Orientierung geben. Zum Beispiel eine Uhr auf den Nachttisch stellen oder vertraute Kleider mitbringen. Die Patienten sollten auch, falls nötig, möglichst bald ihre Brille, ihr Hörgerät oder ihre Zahnprothese bekommen.
- In einfachen Sätzen sprechen. Tabu sind überfordernde Entweder-oder-Fragen und aktuelle Themen.
- Hat der Patient Wahnvorstellungen, nicht tadeln oder korrigieren, sondern ernst nehmen, etwa mit den Worten: «Du siehst da etwas, was ich nicht sehe.»
- Auf Veränderungen im Verhalten achten und dies den Pflegekräften oder Ärzten mitteilen.
- Helfen, eine Brücke zum Verwirrten aufzubauen. Die Ärzte müssen zum Beispiel wissen, wenn ein Patient jahrelang Schlafmittel schluckte, um einschlafen zu können. Der Entzug kann das Delir ausgelöst haben.