Neun Monate war der Ladenbesitzer arbeitsunfähig. Zuerst ganz, dann noch zur Hälfte. Erst hatte der 56-Jährige bei der Arbeit einen Bandscheibenvorfall und verbrachte wegen der starken Rückenschmerzen schlaflose Nächte. Dann brach er zusammen und fiel in eine Depression.
Schliesslich musste der selbständige Kleinunternehmer auch noch vor Gericht ziehen – weil seine zwei Versicherungen kein Taggeld zahlen wollten. Er erscheint mit seinem Anwalt zur Verhandlung am Regionalgericht Bern-Mittelland. Die Mobiliar und die Sanitas lassen sich von einem gemeinsamen Anwalt vertreten. Bei der Mobiliar hat der 56-Jährige eine Taggeldversicherung, die nach 14 Tagen Arbeitsunfähigkeit 80 Prozent des Einkommens abdeckt. Bei der Sanitas sind die restlichen 20 Prozent versichert – nach 60 Tagen Wartefrist.
Nachdem der Mann im Herbst 2016 erkrankt war, wollte die Mobiliar das Arztzeugnis überprüfen lassen. Sie schickte ihn zu ihrem Vertrauensarzt. Dieser bestätigte die psychiatrische Diagnose, ebenso die Arbeitsunfähigkeit. Darauf überwies die Mobiliar 7600 Franken. Dann wurde auch die Sanitas zahlungspflichtig – und die Probleme begannen. Zuletzt wollten beide Versicherungen nicht zahlen.
«Wir bestreiten den Anspruch auf Taggelder», begründet ihr Anwalt die Entscheidung vor Gericht. Der Mann habe sein Geschäft wohl aus wirtschaftlichen Gründen herunterfahren müssen. «Nun sucht er jemanden, der diese Übergangsphase finanziert.» Der Versicherungs-Anwalt behauptet: Der Ladenbesitzer sei arbeitsfähig gewesen und habe den Vertrauensarzt «getäuscht». Das Gericht solle deshalb ein neues Gutachten anordnen.
Der Anwalt stützt sich dabei auf eine Observation: Fünf Tage lang hatte ein Privatdetektiv den 56-Jährigen beschattet. Fotos und Videos zeigen den Versicherten, wie er im Schwimmbad schwimmt und in einer Bäckerei mithilft. Für die Versicherungen war klar: Betrug! Sie kündigten daraufhin die Policen wegen «betrügerischer Begründung des Versicherungsanspruchs». Gestützt darauf forderte die Mobiliar sogar das ausgezahlte Taggeld zurück.
Nur ein paar Gipfeli herumgetragen
Der Anwalt des Versicherten widerspricht dem Betrugsvorwurf. «Eine Depression kann nun mal zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit führen», sagt er. Alles sei medizinisch dokumentiert und durch einen Gutachter der Versicherung bestätigt. Dessen Gutachten zufolge führten die psychischen Probleme zur Arbeitsunfähigkeit und nicht die Rückenprobleme – der Kläger darf bis zu 15 Kilo Gewicht heben. Fazit des Anwalts: Der Ladenbesitzer habe nichts verschwiegen. Er habe die Versicherung von sich aus über den Arbeitsversuch beim Bäcker informiert.
Für den Anwalt des Klägers ist klar: «Die Observierung entkräftet das Gutachten des Vertrauensarztes nicht.» Was der Mann beim Bäcker trug, ist auf den Bildern schwer erkennbar. Es sei eine Plastikgitterkiste für Gebäck gewesen, beladen mit einem Dutzend Gipfeli, sagt der 56-Jährige, der inzwischen wieder arbeitet. Zwanzig Jahre lang habe er Prämien bezahlt, erzählt der Mann. Als er die Versicherung das erste Mal gebraucht hätte, «streckte sie mir nicht etwa eine Hand hin, sondern versuchte, mich vollends den Abhang runterzustossen».
Sein Anwalt stellt dem Gericht zwei Anträge. Erstens sollen die Versicherungen die Taggelder von 19 400 Franken für die restliche Zeit der Arbeitsunfähigkeit überweisen. Und zweitens sollen sie die Aufhebung der Policen wegen betrügerischen Angaben rückgängig machen.
Der Einzelrichter schlägt einen Vergleich vor. Denn mit einem neuen Gutachten wären die Gerichtskosten rasch höher als die Summe, um die es geht. Nach langen Verhandlungen steht der Kompromiss: Die Versicherungen akzeptieren die Geldforderung, nehmen den Vorwurf des Betrugs zurück und runden die Summe auf 20 000 Franken auf. Im Gegenzug verzichtet der Kläger darauf, die beiden Policen weiterzuführen.
Prozessieren für Krankentaggelder voller Hürden
Wer in der Schweiz ausstehende Krankentaggelder einklagen will, ist auf einen Anwalt angewiesen. Denn es gibt kaum ein Rechtsgebiet, das mehr prozessuales Vorwissen voraussetzt.
Hürde eins ist die Frage nach dem anwendbaren Recht. Es gibt nämlich Krankentaggelder, die sich auf das Krankenversicherungsgesetz stützen. Und andere, bei denen das Versicherungsvertragsgesetz massgeblich ist.
Hürde zwei ist die Frage nach der Prozessordnung. Anwendbar ist entweder das Sozialversicherungsrecht oder die Zivilprozessordnung.
Hürde drei ist das zuständige Gericht. Je nach Kanton ist die Klage beim Verwaltungsgericht, beim Sozialversicherungsgericht, beim Kantonsgericht oder beim Friedensrichter einzureichen.