Einige Krankenkassen beklagen sich über angeblich höhere Kosten, welche die Coronapandemie verursacht haben soll. Und sie machen ihre Kunden glauben, dass sie die Leistungen nur aufgrund grosser Finanzpolster finanzieren können.
Beispiel Assura: «Dank der Reserven kann Assura die Covid-19-bezogenen Behandlungskosten decken», schreibt die Kasse in ihrem Kundenmagazin. Und in der Zeitschrift der KPT heisst es, ein Krankenversicherer müsse auch in aussergewöhnlichen Situationen wie in einer Pandemie die Gesundheitskosten seiner Versicherten bezahlen können. «Darum fliessen die Überschüsse aus der Grundversicherung in die Reserven.»
Tatsache ist: Die Krankenkassen mussten ihre Reserven im Pandemiejahr 2020 bisher nicht anzapfen. Und die Zahl der Hospitalisierungen ist seit Monaten sehr tief. Recherchen von saldo zeigen sogar: Die Krankenversicherer konnten ihr Vermögen im laufenden Jahr weiter äufnen. Das heisst: Sie nahmen mehr Prämien ein, als sie für Leistungen der Versicherten bezahlen mussten. Trotz der Coronapandemie waren die zulasten der Grundversicherung entstandenen Gesundheitskosten laut Bundesamt für Gesundheit im ersten Halbjahr 2020 etwa gleich hoch wie im Vorjahr.
Reserven sind doppelt so hoch wie vorgeschrieben
Die Reserven der Krankenkassen steigen von Jahr zu Jahr. Sie sind inzwischen viel höher als vom Bundesamt für Gesundheit gefordert. In den beiden vergangenen Jahren waren sie doppelt so hoch wie gesetzlich vorgeschrieben (siehe Grafik im PDF). Für die Versicherten heisst das: Sie zahlen jedes Jahr mehr Geld an die Krankenkassen, als es die Krankheitskosten erfordern würden. Sie zahlen also Prämien auf Vorrat.
Daniel Lampart ist Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Er sagte am 7. September in der Wirtschaftssendung «Eco» des Schweizer Fernsehens, die Reserven der Krankenkassen hätten dieses Jahr den Rekordwert von 11,3 Milliarden Franken erreicht. Das Bundesamt für Gesundheit sagte auf Anfrage von saldo nichts dazu.
Der Bundesrat hingegen bestätigte am 14. September auf eine Frage des Tessiner FDP-Nationalrats Alex Farinelli schriftlich «den Aufwärtstrend bei den Reserven». Per Ende 2019 betrugen die vorhandenen Reserven noch 9,5 Milliarden, gesetzlich vorgeschrieben gewesen wären 4,7 Milliarden Franken.
Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes, fordert: «Die Krankenkassen müssen die überschüssigen Reserven an die Versicherten zurückerstatten.» Die Coronapandemie trifft seiner Meinung nach vor allem Leute mit tiefen und mittleren Einkommen, weil Kurzarbeit in den Branchen mit den niedrigsten Löhnen am stärksten verbreitet ist. Die Krankenkassenprämien würden gerade diesen Haushalten einen immer grösseren Teil des Einkommens wegfressen. Seine Idee: Allen Versicherten sollen 200 bis 250 Franken ausbezahlt werden. Eine Familie mit zwei Kindern hätte so rund 1000 Franken zugut. Maillard brachte diesen Vorschlag in die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ein. Doch die Mitglieder lehnten ihn mit 13 zu 10 Stimmen ab.
Auch bei der Diskussion im Nationalrat um das Covid-19-Gesetz scheiterten Maillard und seine Mitstreiter: Der Vorschlag, die obligatorischen Reserven zu senken und die Überschüsse an die Versicherten zurückzuzahlen, scheiterte am bürgerlichen Widerstand im Nationalrat: Der Minderheitenantrag wurde am 9. September mit 117 zu 77 Stimmen abgelehnt.
Corona verursachte keinen Kostenschub
Ein Blick in das Kostenmonitoring des Bundesamts für Gesundheit zeigt: Die Kosten in der Grundversicherung lagen im ersten Halbjahr 2020 pro Versichertem um 0,1 Prozent tiefer als im Vorjahr. Von den pandemiebedingt befürchteten Verlusten kann in der Grundversicherung also keine Rede sein. Die Kosten für Spitalbehandlungen sanken um 0,2 Prozent. Die grössten Rückgänge bei den Kosten verzeichneten Ärzte mit einem Minus von 4,4 Prozent sowie die Physiotherapeuten (minus 8,6 Prozent).