Freitag, 5. November, 17.32 Uhr: Im Intercity 1 von Zürich nach Bern und Genf stehen die Passagiere dicht gedrängt im Mittelgang eines 2.-Klass-Wagens. Der Zug ist übervoll, alle Sitzplätze sind belegt (Bild im PDF). Grund: Statt eines neuen Bombardier-Doppelstockwagens mit 1300 Sitzplätzen verkehrt ein Ersatzzug auf der meistbenutzten SBB-Strecke der Schweiz. In der Stosszeit fehlen 600 Sitzplätze.
Viele Bahnbenützer machen ähnliche Erfahrungen, wie saldo- Recherchen zeigen. Besonders prekär ist die Situation morgens und abends, wenn all jene Reisenden wieder unterwegs sind, die während der Homeoffice-Pflicht zu Hause blieben.
Zahlen des Verbands öffentlicher Verkehr bestätigen: Seit diesem Sommer sind so viele Leute mit der Bahn unterwegs wie nie mehr seit dem Lockdown im März 2020. Zwischen April und Juni 2020 legten Passagiere 2 Milliarden Kilometer zurück, zwischen Juli und September 2021 waren es 4 Milliarden.
Sicherheitsrisiko bei verstopften Gängen
Grund für die Platznot: Die SBB lassen kürzere Züge verkehren, obwohl wieder mehr Leute mit der Bahn fahren. Dies bestätigt Lokführerin Hanny Weissmüller, die auch Präsidentin des Lokpersonalverbands LPV-SEV ist: «Seit August fahren Züge vermehrt mit weniger Waggons und damit weniger Sitzplätzen für die Reisenden.» Die Verbandspräsidentin warnt vor Sicherheitsrisiken: «Verstopfte Durchgänge können bei Störungen oder einem Notfall gefährlich werden.»
Gemäss internen Quellen gibt beim SBB-Management zurzeit eine «Zufriedenheitsumfrage» bei den Kunden zu reden. Hauptkritikpunkt der Reisenden: der akute Platzmangel in den Zügen.
Warum gibts in den Zügen zu wenig Sitzplätze? Die SBB schreiben saldo: «Wenn immer möglich verkehren die Züge in der normalen Länge. Aus betrieblichen Gründen kann es vorkommen, dass kurzfristig bei einzelnen Verbindungen nicht alle Wagen zur Verfügung stehen.» Im Vergleich zum ersten Lockdown würden seit diesem Sommer aber knapp 20 Prozent mehr Sitzplätze angeboten.
Das reicht offensichtlich nicht, denn der Bundesbetrieb hat ein Rollmaterialproblem: Von den vor elf Jahren bestellten 62 Doppelstockzügen der Firma Bombardier erhielten die SBB erst 52. Davon setzen sie aktuell aber nur 36 ein. Denn 16 neue Doppelstöcker sind zu pannenanfällig. Folge: Zehntausende von Sitzplätzen fehlen – jeden Tag. An Rollmaterial mangelt es vor allem auf den Hauptachsen wie Bern–Zürich, Zürich–Basel oder Luzern–Zürich–Flughafen, wo eigentlich bis zu 1300 Sitzplätze pro Zug eingeplant wären.
Bewährtes Rollmaterial vorschnell verkauft
Kommt hinzu: Die SBB verkleinerten trotz des fehlenden Rollmaterials ihre Reserven an Bahnwaggons. So wurden etwa 25 der bei Pendlern beliebten Einheitswagen 4 für 1 Million Franken nach Tschechien verkauft. Laut einem NZZ-Bericht wollen die SBB ab 2024 weitere hundert Waggons ausrangieren. Die Bahn schreibt dazu: «Wir rangieren nur Einheitswagen IV aus, wenn diese nicht mehr benötigt werden.»
Tatsache ist: Mit jedem kürzeren Zug, in dem Passagiere stehen, spart die Bahn Geld. Die SBB-Pressestelle bestätigt, dass «Länge, Gewicht und gefahrene Kilometer den Stromverbrauch sowie den Unterhaltsaufwand direkt beeinflussen». Aus Spargründen würden aber keine Züge verkürzt geführt.