Verkehrslärm: 3,7 Millionen Menschen belästigt
Der Lärm von Autos macht mehr Menschen krank als angenommen. Das zeigt eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation.
Inhalt
saldo 10/2011
22.05.2011
Letzte Aktualisierung:
24.05.2011
Eric Breitinger
Viel mehr Schweizer als bisher angenommen leiden unter dem Verkehrslärm. Das geht aus einem neuen Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Thema der Studie: «Gesundheitsschäden durch Umgebungslärm» in Europa.
saldo liegen exklusiv die Schweizer Zahlen aus der Studie vor. Und die sind alarmierend: Demnach sind 3,7 Millionen Bewohner von Ortschaften mit über 10 000 Einwohnern tagsüber Strassenverkehrslärm von mindest...
Viel mehr Schweizer als bisher angenommen leiden unter dem Verkehrslärm. Das geht aus einem neuen Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Thema der Studie: «Gesundheitsschäden durch Umgebungslärm» in Europa.
saldo liegen exklusiv die Schweizer Zahlen aus der Studie vor. Und die sind alarmierend: Demnach sind 3,7 Millionen Bewohner von Ortschaften mit über 10 000 Einwohnern tagsüber Strassenverkehrslärm von mindestens 55 Dezibel ausgesetzt. In der Nacht werden knapp 2 Millionen Leute von Strassenlärm geplagt, der lauter ist als 45 Dezibel. Das sind 37 Prozent der Bewohner dieser Orte.
Das Bundesamt für Umwelt rechnet mit deutlich weniger Lärmbelästigten: 1,2 Millionen Menschen leiden laut seinem Bericht «Umwelt Schweiz 2009» tagsüber an «schädlichem oder lästigem» Strassenverkehrslärm, in der Nacht seien es nur 700 000 Personen.
Der Grund für die Differenzen: Das Bundesamt berücksichtigt nur denjenigen Verkehrlärm, der lauter ist als die Schweizer Grenzwerte. Diese sind jedoch mindestens 5 Dezibel höher als die von der WHO empfohlenen Werte.
Kritiker halten die Schweizer Grenzwerte für wissenschaftlich überholt und für zu lasch, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen voll zu schützen. Unbestritten ist, dass der Strassenverkehr die bedeutendste Lärmquelle der Schweiz darstellt, gefolgt von Bahn- und Fluglärm.
So sind laut dem Bericht des Bundesamtes nur 70 000 Personen am Tag und 140 000 Leute in der Nacht von Eisenbahnlärm betroffen. An Fluglärm leiden am Tag 65 000 und in den nächtlichen Randstunden 95 000 Menschen.
Über 200 000 leiden unter Schlafstörungen wegen Verkehrslärm
Das hat gesundheitliche Konsequenzen: Die häufigste Folge des Lärms sind laut der WHO-Studie Schlafstörungen. Bis zu 210 000 Menschen leiden in der Schweiz infolge des nächtlichen Strassenlärms an schweren Schlafstörungen, wenn man die WHO-Methodik anwendet.
Der geraubte Schlaf führt gemäss saldo-Berechnungen zu einem jährlichen Verlust von knapp 15 000 gesunden Lebensjahren. Gesunde Lebensjahre sind eine statistische Grösse, mit der Gesundheitsökonomen die Folgen von Belastungen auf die Lebensqualität berechnen.
Berücksichtigt werden dabei der vorzeitige Tod und die eingeschränkte Lebensqualität infolge einer Erkrankung. Für den Oberwalliser Arzt Bernhard Aufdereggen, Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Lärmbekämpfung, sind die Zahlen kein Wunder:
«Bereits niederschwellige Geräuschpegel von 45 bis 50 Dezibel können den Schlaf stören. Der Mensch schläft kürzer, weniger tief und ist morgens weniger erholt.» Das beeinträchtige seine Leistungsfähigkeit am Tag und ende im schlimmsten Fall in chronischen Schlafstörungen.
Lärm führt laut den WHO-Forschern häufig zu Verstimmungen. Viele Menschen reagieren auf dauerhaften Krach genervt, gereizt und entspannen sich schlechter. Rund 415 000 Menschen fühlen sich in der Schweiz vom täglichen Strassenverkehrslärm gemäss der WHO-Methodik stark belästigt.
Strassenverkehrs- und Fluglärm erhöhen auch das Risiko von Bluthochdruck oder eines Herzinfarkts. Zumindest legen neuere Studien diesen Schluss nahe. So reagiert der Körper auf längeren Krach mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, das vermutlich zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen kann.
Die WHO beziffert den Schaden der vom Lärm verursachten Herzerkrankungen in Europa auf jährlich 61 000 gesunde Lebensjahre. Für die Schweiz liegen keine Zahlen vor. Die dichtbesiedelten Teile der Schweiz sind im Vergleich mit anderen europäischen Ländern lärmig.
Die Schweiz gehört gemäss den Zahlen der WHO-Studie mit Italien, Grossbritannien und Österreich zu den tagsüber stark lärmbelasteten westlichen Ländern. In Bulgarien, Ungarn oder Tschechien geht es noch lauter zu, in Frankreich und Deutschland tendenziell leiser.
«Wir machen eine Pflästerlipolitik im Lärmschutz»
Die Schweizer Politiker behandeln die Lärmbelastung der Bürger stiefmütterlich. Für Bernhard Aufdereggen von der Eidgenössischen Kommission für Lärmbekämpfung fällt die Bilanz der Lärmschutzgesetze «nicht gut» aus.
Der Bund habe zwar den Bahnlärm reduziert. Kantone und Gemeinden scheuten aber die Kosten, um die Lärmquelle Nummer eins, den Strassenverkehr, einzudämmen. Möglich wäre dies hauptsächlich mit einer Verkehrsreduktion.
Laut Aufdereggen frisst die Verkehrszunahme die Wirkung von Schallschutzwänden oder -fenstern in der Regel wieder auf. Sein Fazit: «Wir machen eine Pflästerlipolitik.» Die Folge: Ein grosser Teil der Bevölkerung ist vor krankmachendem Lärm ungenügend geschützt.