In keinem anderen Land der Welt setzen die Ärzte pro Einwohner mehr künstliche Kniegelenke ein als in der Schweiz. 2019 fanden pro 100 000 Einwohner 260 solche Eingriffe statt – doppelt so viele wie in Norwegen, Schweden, Spanien oder Italien. Das zeigt eine Statistik der Organisation der Staaten für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Viele Knie-OPs werden aufgrund «falsch positiver Befunde» von Magnetresonanztomografien durchgeführt und wären nicht nötig. Das konstatiert der Verein Smarter Medicine, der sich gegen die Überversorgung im Gesundheitswesen einsetzt. Er stützt sich dabei auf eine Analyse von 63 Studien.
Mehr unnötige Operationen – steigende Prämien
Die Entfernung der Prostata bei einem Krebsleiden bringt oft keinen Nutzen. Dennoch nahmen die Eingriffe auch hier zu: 2014 wurden pro 100 000 Einwohner 71 OPs vorgenommen, im Jahr 2019 waren es bereits 84. Und die Zahl der Hüftersatzoperationen stieg im selben Zeitraum von 300 auf 313 pro 100 000 Einwohner.
Die Zunahme unnötiger Operationen hat Folgen: Die Krankheitskosten steigen jedes Jahr. Und damit auch die Krankenkassenprämien. Selbst im vergangenen Jahr sanken die Kosten nicht – trotz eines sechswöchigen Verbots von nicht dringlichen Operationen zwischen dem 16. März und dem 27. April 2020. Zwar sagte Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit an einer Pressekonferenz im August, dass im vergangenen Jahr wegen der Behandlung von Coronapatienten rund 30 000 Operationen nicht durchgeführt werden konnten. Wie viele Eingriffe 2020 konkret vorgenommen wurden, weiss das Bundesamt jedoch nicht.
Zum Vergleich: 2019 kam es gemäss der medizinischen Statistik der Krankenhäuser landesweit zu 712 000 Eingriffen.
Die Krankenkasse Helsana verglich die Zahlen der letzten beiden Jahre. Resultat: Im Sommer 2020 wurden über 20 Prozent mehr Kniegelenkoperationen durchgeführt als 2019. Bis Ende 2020 wurden sämtliche aufgeschobenen Operationen nachgeholt («K-Tipp» 15/2021).
Die Zahlen der Helsana stimmen mit den Angaben der Privatkliniken überein. Diese stellten 2020 keinen Einbruch bei den Operationszahlen fest. In den 16 Kliniken der Hirslanden-Gruppe wurden im Geschäftsjahr vom 1. April 2020 bis zum 31. März 2021 gleich viele Patienten stationär behandelt wie in den beiden Jahren davor: rund 107 000. Auch im Bereich Orthopädie, wozu Knieoperationen zählen, blieb die Operationstätigkeit in den Hirslanden-Kliniken nahezu stabil.
Konstant sind die Zahlen auch bei der Basler Merian-Iselin-Klinik sowie bei der Zürcher Schulthess-Klinik. Die 16 Privatkliniken des Swiss Medical Network steigerten die Gesamtanzahl der Eingriffe im Coronajahr sogar von 55 120 auf 59 189 Operationen.
Der Verein Smarter Medicine führt auf seiner Internetseite 70 medizinische Massnahmen auf, die zu häufig durchgeführt werden. Neben Magnetresonanztomografien bei Knien gehören dazu etwa Ganzkörpercomputertomografien nach geringfügigen Vorfällen, Elektroenzephalografien bei Kopfschmerzen, Verschreibungen von Antibiotika sowie unnötige Blut- oder Röntgenuntersuchungen.
Nicolas Rodondi, Chefarzt bei der Berner Inselgruppe und Präsident des Vereins Smarter Medicine, sagt sogar: «Der Verzicht auf unnötige Behandlungen kann mehr Lebensqualität für die Betroffenen bedeuten». Ausserdem würden Kosten gespart.
«Fehlender Wille zur Beseitigung der Missstände»
Belege für eine medizinische Überversorgung lieferte bereits eine Analyse des Bundes aus dem Jahr 2017, an welcher der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher mitwirkte. Er und weitere Experten schlugen damals 38 Massnahmen zur Senkung der Kosten vor. Heute zeigt sich Heinz Locher konsterniert. Kaum etwas sei umgesetzt worden: «Es fehlt am Willen zur Beseitigung der Missstände.»
Allein in der ersten Jahreshälfte 2021 stiegen die von der obligatorischen Grundversicherung gedeckten Krankheitskosten im Vergleich zur Vorjahresperiode um 495 Millionen Franken (Tabelle Im PDF). Sie betrugen 16,9 Milliarden Franken. Das zeigen Berechnungen des Gesundheitsökonomen Josef Hunkeler.
Bei den ärztlichen Behandlungen (plus 268 Millionen) und ambulanten Spitalbehandlungen (plus 95 Millionen) fällt das Wachstum besonders stark aus. Alles Kosten, welche die Prämienzahler decken müssen.