Unglaublich: Rente ab 95
Der AWD verkauft einer 78-jährigen Frau eine Rentenversicherung für 150 000 Franken - erstmalige Auszahlung mit 95 Jahren. «Eine gute Sache», findet das Unternehmen.
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saldo 6/2005
30.03.2005
Marc Meschenmoser
Wozu braucht eine 78-jährige Frau mit gesicherter AHV und über 300 000 Franken Vermögen eine Rentenversicherung? Zudem eine Rente, die sie erst mit 95 Jahren erhält? Berta Durrer (Name geändert) aus dem Toggenburg liess sich vom Allgemeinen Wirtschaftsdienst (AWD) eine Rentenversicherung der Helvetia Patria aufschwatzen. Die hochbetagte Frau bezahlte vor zwei Jahren eine einmalige Einlage von 150 000 Franken.
AWD-Beraterlohn besteht nur aus Provisionen
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Wozu braucht eine 78-jährige Frau mit gesicherter AHV und über 300 000 Franken Vermögen eine Rentenversicherung? Zudem eine Rente, die sie erst mit 95 Jahren erhält? Berta Durrer (Name geändert) aus dem Toggenburg liess sich vom Allgemeinen Wirtschaftsdienst (AWD) eine Rentenversicherung der Helvetia Patria aufschwatzen. Die hochbetagte Frau bezahlte vor zwei Jahren eine einmalige Einlage von 150 000 Franken.
AWD-Beraterlohn besteht nur aus Provisionen
Mittlerweile kümmert sich der ehemalige Amtsvormund Thomas Ammann aus Flawil SG um die finanziellen Belange der Seniorin. Ammann ist über das Vorgehen des - laut Eigenwerbung - «unabhängigen Finanzoptimierers» empört: «Der AWD-Mitarbeiter nutzte die Unbeholfenheit der Kundin mit dem Ziel aus, eine hohe Provision zu kassieren.»
Das wird indirekt auch beim AWD bestätigt: Der zuständige Berater Roman Fröhlich habe zusammen mit der Rentnerin gebetet. Ein Einsatz, der sich offensichtlich auszahlte: Der AWD erhielt für dieses Geschäft laut Branchenkennern 6000 Franken Provision. Berater Fröhlich sagt einzig: «Ich verdiene mit solchen Kapitalversicherungen mehr als beim Vermitteln einer Krankenkasse.» Doch seine Verkäufe würden sich nach den Kundenbedürfnissen und nicht nach der Höhe der Provision richten.
Tatsache ist: Die 360 Schweizer Berater leben nur von Provisionen. AWD-Konzernsprecher Andreas Bonifazi: «Unsere Berater erhalten kein festes Einkommen.» Zudem: Jedes Teammitglied arbeitet in die Kasse seines Chefs sowie dessen Vorgesetzten in der Zentrale.
Wer genügend Adressen liefert, wird angestellt
Dass die Gesellschaft beim Personal nicht wählerisch ist, zeigte sich, als der AWD unwissentlich einen saldo-Journalisten einstellen wollte (saldo 8/02). Dazu waren weder Lebenslauf, Arbeitszeugnisse noch Referenzen nötig. Der berufliche Hintergrund interessierte nicht - wichtiger waren 100 Adressen von Bekannten und Freunden für Verkaufsgespräche.
Dass dies auf Kosten der Beratungsqualität geht, stellte auch das Wirtschaftsmagazin «Wiso» des deutschen Fernsehens ZDF fest: AWD Deutschland schnitt im letztjährigen Test durchs Band schlecht ab. Fazit der Tester: «Der AWD-Berater war äusserst dreist, zudem stellte er die Kosten falsch dar.»
Im Fall von Berta Durrer waschen die Beteiligten ihre Hände in Unschuld. Helvetia-Patria-Sprecher Beat Holdener: «Wir machen zwar Stichproben, prüfen aber nicht in jedem einzelnen Fall, ob ein Vertrag plausibel ist.» Und der AWD findet nach wie vor, die Kundin sei «gut beraten worden». Die Begründung von Andreas Bonifazi erstaunt: «Das Geld ist so sicher vor unerwünschten Zugriffen von Fremden. Die Rente kann jederzeit abgerufen werden.»
Vorzeitige Kündigung nur mit Zinsverlust
Das stimmt. Nur: Laut Vertrag erfolgt die Auszahlung erst ab 2020 - dazu müsste Berta Durrer 95 Jahre alt werden. Will sie das Geld früher, reduziert sich die Rente stark.
Voraussichtlich wird die Rentnerin die Versicherung vorzeitig kündigen. Ihr Vertreter Thomas Ammann: «Dadurch gehen zwar einige tausend Franken Zinsen verloren. Doch besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.»
AWD: Millionen für die Chefs
Der AWD feierte 2004 als «erfolgreichstes Jahr in der Unternehmensgeschichte» mit einer Milliarde Franken Umsatz. 6014 Finanzberater verkaufen in elf europäischen Ländern Versicherungsprodukte anderer Gesellschaften - 360 Berater sind es allein in der Schweiz.
Die AWD-Leitung kassiert bei jedem Geschäft einen Teil der Provision. Besonders für den höchsten Chef, Carsten Maschmeyer, hat sich die 17 Jahre dauernde Aufbauarbeit ausbezahlt: Anfang März verkaufte er 20 Prozent der Aktien für 364 Millionen Franken.
Der Konzern unternimmt alles, um seinen Ruf zu verbessern und kauft sich Prestige mit Sponsoring: Das Fussball-WM-Stadion in Hannover wurde für einige Millionen in «AWD-Arena» umbenannt, die Firma sponsert die österreichische Fernsehsendung «Millionenshow» und Chef Maschmeyer unterstützte mit gut 500 000 Franken Gerhard Schröders Kandidatur zum Bundeskanzler.