Für Psychotherapeuten und Psychiater in der Schweiz ist das englischsprachige Diagnostikhandbuch «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM) unverzichtbar. Denn das Werk des amerikanischen Psychiater-Verbands mit dem sperrigen Titel definiert, was eine psychische Krankheit ist und an welchen Symptomen man sie erkennt. Im Mai 2013 erschien die neuste Fassung DSM-5, die heute gültig ist.
Ein Teil der Autoren erhielt Honorare von der Pharmaindustrie
Die aktuelle Version führte sechs umstrittene neue Krankheiten ein. Psychiater können nun Essanfälle, leichte Vergesslichkeit, milde Formen von Autismus, aufmüpfiges Verhalten von Kindern oder eine länger als 14 Tage dauernde Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen als psychische Krankheit einstufen. Kritiker warnten vor der Ausweitung solcher Diagnosen und der Verschreibung von Psychopharmaka gegen eigentlich harmlose Symptome («Gesundheitstipp» 9/12).
Ein Forscherteam um die Psychiaterin Lisa Cosgrove von der Harvard-Universität in den USA untersuchte die Verbindungen der Buchautoren zur Pharmaindustrie. Resultat: 61 Prozent der Mitglieder des obersten DSM-Entscheidungsgremiums standen auf der Lohnliste von Pharmafirmen, die direkt von der Aufnahme der neuen Krankheiten in den Diagnosekatalog profitierten. Zudem standen 27 Prozent der Mitglieder von einzelnen Arbeitsgruppen im Sold jener Pharmafirmen. Zum Beispiel arbeiteten 5 der 12 Mitarbeiter der Gruppe «Stimmungsstörungen» und 3 Mitglieder der Gruppe «Essstörungen» für den US-Konzern Eli Lilly. Die Psychiater hielten für die Firmen Vorträge, leiteten Studien, fungieren als Berater oder besitzen sogar Aktien. Cosgrove fand auch heraus, dass der Einfluss der Firmen auf die Experten zunahm: Der Anteil der für die Industrie tätigen DSM-Autoren war bei der aktuellen Auflage um 21 Prozent höher als bei der Version aus dem Jahr 2000.
Im Fokus stehen Medikamente, deren Patentschutz abläuft
Für die Pharmaunternehmen lohnt sich die Einflussnahme. Laut Cosgrove laufen zurzeit zu den sechs neuen DSM-Krankheiten Arzneimittelstudien. In neun Fällen suchen Pharmafirmen nach neuen Anwendungsgebieten für Medikamente, deren Patentschutz bald abläuft oder bereits abgelaufen ist. Es handelt sich um vielverkaufte Produkte mit einem Umsatz von 900 Millionen Franken und mehr im Jahr. So testet Eli Lilly laut der Studie sein Medikament Cymbalta als neues Mittel gegen die neuen Krankheiten Fresssucht und Trauer. Bisher ist Cymbalta nur als Medikament gegen Depressionen zugelassen. Das Patent lief im Dezember 2013 aus. Haben die Tests Erfolg, winkt dem Hersteller für sein Mittel eine lukrative Patentverlängerung um drei Jahre. Anderenfalls verliert das Präparat den Patentschutz und bald einen Grossteil des Umsatzes an günstigere Nachahmerpräparate.
Cosgrove fordert, dass nur wirklich unabhängige Experten neue Krankheiten definieren und ärztliche Leitlinien zur Behandlung verfassen dürfen. Zudem verlangt sie mehr öffentliche Gelder für Medikamententests. Brisante Ergebnisse bleiben öfter unpubliziert, wenn die Industrie die Studien finanziert (saldo 2/10).
Die Rechnung der Pharmaunternehmen dürfte trotzdem aufgehen: Für Andreas Schiesser vom Krankenkassenverband Santésuisse ist klar, dass «die neuen Indikationen künftig in der Schweiz zu Mehrkosten für die Diagnose und Behandlung mit Medikamenten führen werden».
Diagnosebuch für Psychiater: Autoren haben neue Krankheiten erfunden