Beim Tagi arbeiten Journalisten, die offenbar über prophetische Fähigkeiten verfügen: «Ein Mann, der im Jahr 2095 65 Jahre alt wird, kann noch mit 27,5 Lebensjahren rechnen – mit mehr als alle 65-Jährigen vor ihm», liest man in der Ausgabe vom 21. März 2016, mit Verweis auf das Bundesamt für Statistik. Und zwar in einem durchaus ernst gemeinten Artikel.
Kein vernünftiger Mensch und schon gar kein Wissenschafter würde eine Prognose über die Lebenserwartung der Schweizer Männer für das Jahr 2095 wagen. Aber wenn Pensionskassen klagen, wird offenbar jeder Unsinn gedruckt.
Das fängt schon auf der Frontseite dieser Tagi-Ausgabe an. Titel: «Männer bereiten den Pensionskassen Sorgen.» Auf Seite 5 gehts weiter mit der Schlagzeile «Langlebigkeit der Männer kostet Geld, das nicht da ist». Hier erfährt man, dass heute ein 65-jähriger Mann im Durchschnitt noch 19,77 Jahre lebe, eine Frau noch 21,93 Jahre. Das tönt nicht unplausibel – macht aber eher die Frauen als die Männer zum Problem der Pensionskassen.
Und: Das Bundesamt für Statistik kommt auf andere Zahlen. Deshalb hätte saldo gerne die Daten gesehen, auf denen die Berechnung basiert. Die Lebenserwartung ist nämlich sehr unterschiedlich. Beamte leben länger als Bauarbeiter. Und die meisten Aussagen der Pensionskassen zur Lebenserwartung basieren auf Prognosen, nicht auf der tatsächlichen Sterblichkeit der Versicherten.
Laut dem «Tages-Anzeiger» stammt die Studie von der Pensionskassenberatungsfirma Libera. Aus ihrer Pressemeldung geht hervor, dass sie Daten von 15 grossen Pensionskassen ausgewertet hat.
Kein Einblick in die zitierte Studie
Es gibt in der Schweiz aber rund 2000 Pensionskassen. Da würde man gerne wissen, um welche Berufsgruppen es sich handelte. Doch Libera wollte saldo das Papier nur gegen 8000 Franken herausgeben.
Also fragte saldo bei der Autorin der Berichte nach. Antwort: Ihr lag die Studie auch nicht vor. Trotzdem dürfen «Pensionskassenexperten» und Pensionskassenverband einmal mehr das Lied der knappen Finanzen und der zu hohen Renten singen.
Auf Seite 12 der gleichen Ausgabe geht es weiter zum Thema Pensionskasse: «Die Umverteilung stoppen», lautet hier der Titel. Inhalt: Pensionskassenexperten sagen, die Renten müssten sinken. Die Erwerbstätigen würden die Rentner quersubventionieren. Befragt wurden von der Autorin wieder nur Vertreter der Pensionskassen oder Leute aus der Finanzbranche.
Drei Tage später stellt der «Tages-Anzeiger» fest, beim Wissensstand über die zweite Säule gebe es grosse Lücken. Die Autorin beruft sich dabei auf eine Umfrage unter 1004 Personen in der Deutschschweiz.
Resultat: Nur knapp die Hälfte der Befragten hätten korrekt angeben können, dass die berufliche Vorsorge auf dem Kapitalumlageverfahren beruhe. Auffallend sei, dass die «Älteren kaum besser Bescheid wüssten als die Jungen». Das beweist die Redaktorin gleich selbst. Denn die zweite Säule beruht im Unterschied zur AHV eben gerade nicht auf dem Kapitalumlageverfahren. Sondern dem Kapitaldeckungsverfahren: Jede und jeder finanziert seine eigene Altersvorsorge.
Hauptsache, die Botschaft kommt an
Nach so viel Falschinformationen machte die Tagi-Redaktion eine Internetumfrage: «Machen Sie sich Sorgen um Ihre künftige Pensionskassenrente?» Ergebnis: 73 Prozent antworteten mit Ja.
So gesehen haben all die Artikel ihren Zweck erfüllt: Weder Journalisten noch Leser blicken besser durch. Hauptsache, die Leute glauben, die Jungen würden die Rentner unterstützen und eine Rentenkürzung sei unumgänglich.