Laut dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit nehmen Schweizerinnen und Schweizer doppelt so viel Zucker ein, wie gesund wäre. Ins Gewicht fallen vor allem Süssgetränke. Sie enthalten in der Schweiz oft mehr Zucker als ausländische Abfüllungen. So stecken etwa in einem Schweizer Fanta Orange 10,3 Gramm Zucker pro Deziliter. In Grossbritannien sind es nur 4,5 Gramm. Bei anderen Süssgetränken ist es ähnlich. Der Grund für den Unterschied: Grossbritannien führte eine Zuckersteuer ein, die Hersteller entrichten müssen, wenn sie zu viel Zucker verwenden.
Die Ernährungsforscherin Anne Christin Meyer-Gerspach von der Uni Basel fordert auch für die Schweiz griffige Massnahmen, denn der «Zuckerkonsum schadet diversen Organen».
Doch der Bund schloss nur eine freiwillige Vereinbarung mit einzelnen Firmen. 16 Hersteller und Händler unterschrieben Anfang 2023 die «Erklärung von Mailand», darunter Aldi, Coca-Cola, Coop, Migros, Nestlé, Rivella und Volg. Darin verpflichteten sie sich, den Zuckergehalt in Getränken bis Ende 2024 um zehn Prozent zu senken. Erreichen sie das Ziel nicht, gibt es keine Sanktionen. Namhafte Firmen wie Denner, Lidl, Pepsi, Red Bull und Unilever machen nicht mit.
Migros definierte das Ziel von nur zehn Prozent weniger Zucker
Das Bundesamt setzte sich gar nicht erst für schärfere Regeln ein. Das zeigt die Korrespondenz mit Herstellern und Händlern, in die saldo, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, Einblick nehmen konnte. Das Amt schlug eine Zuckerreduktion um 20 Prozent vor. Damit dürften die Süssgetränke immer noch viel mehr Zucker enthalten als Süssgetränke in Grossbritannien.
Die Migros antwortete in gefetteter Schrift, man sei «nicht einverstanden» und werde die Vereinbarung «in dieser Form nicht unterschreiben». Auch die Hersteller, darunter Nestlé und Rivella, forderten Änderungen.
Das Bundesamt bat um «Gegenvorschläge». Das schliesslich vereinbarte Reduktionsziel von nur 10 Prozent kam von der Migros. Der Bund lenkte ohne Widerrede ein. Auch weitere Wünsche der Migros setzte er eins zu eins um. So soll der Zuckergehalt bei neuen Getränken unter dem Wert von 2021 und nicht unter jenem von 2024 liegen. Das ist einfach zu erreichen: Die meisten Firmen reduzieren den Zuckergehalt neuer Getränke seit Jahren leicht.
Auffällig: Angestellte von Migros und Coop sind in E-Mails per Du mit der «lieben Steffi», der zuständigen Fachfrau beim Bundesamt. Dieses schreibt: «Die Form der Ansprache ist irrelevant für die Zusammenarbeit.» Coop sagt, der Kontakt sei «rein beruflicher Natur». Coop wollte als einziger Grossverteiler die Korrespondenz mit dem Bundesamt nicht offenlegen. Grund: «Geschäftsgeheimnisse».
Der Haken bei der Reduktionsvereinbarung: Für Händler und Bund ist nur der durchschnittliche Zuckergehalt aller Süssgetränke eines Herstellers relevant – nicht der Zuckergehalt einzelner Produkte. Firmen können ihre Werte verbessern, indem sie neue zuckerreduzierte Produkte lancieren, ohne bestehende Rezepte zu ändern: Zuckerbomben wie das Original-Coca-Cola dürfen in der Schweiz also bleiben, wie sie sind.