Die kinderlose Witwe aus der Stadt Bern war vorsichtig, wenn es ums Geld ging. In ihrem Testament bezeichnete sie 5 Prozent ihres Vermögens als «Reserve» für Kosten, die nach ihrem Tod anfallen könnten. Die Frau wollte sicherstellen, dass alles bezahlt wird. Deshalb ordnete sie im Testament sogar an, wie vorzugehen wäre, wenn das vorgesehene Geld nicht ausreichen würde. In diesem Fall sollten sich die eingesetzten Erben anteilsmässig am fehlenden Betrag beteiligen.
Die Witwe starb im Januar 2016 mit 86 Jahren. Nach der Bezahlung der Kosten für die Bestattung und den Willensvollstrecker blieben von der Reserve 230 000 Franken übrig.
Um dieses Geld streiten sich nun zwei Gruppen am Regionalgericht Bern-Mittelland in Bern.
Auf der einen Seite stehen die im Testament eingesetzten Erben. Sie erhielten 95 Prozent des Nachlasses von insgesamt 6 Millionen Franken. Sie beanspruchen auch die restlichen 230 000 Franken. Federführend ist ein befreundeter Augenarzt. Er gehört zusammen mit der Patentochter der Verstorbenen zu den Haupterben. Als die Witwe mit über 80 Jahren ins Altersheim gezogen war, regelte er ihre Angelegenheiten und war ihr Beistand. Auch die ältere Schwester des Augenarztes wurde im Testament grosszügig bedacht. Zu den weiteren eingesetzten Erben gehören gemeinnützige Institutionen wie Médecins Sans Frontières, die Heilsarmee oder eine Alzheimervereinigung. Auf der anderen Seite stehen die im Testament nicht bedachten gesetzlichen Erben. Dabei handelt es sich um ein Dutzend meist entfernte Verwandte. Sie wären nach gesetzlicher Erbfolge zum Zug gekommen, falls die kinderlose Witwe kein Testament aufgesetzt hätte. Nachdem sie leer ausgingen, beanspruchen sie nun die übriggebliebenen 230 000 Franken.
Dem Willensvollstrecker war es nicht gelungen, zwischen den beiden Gruppen eine Einigung herbeizuführen. Deshalb reichten der pensionierte Augenarzt und seine Schwester eine Erbteilungsklage ein. Médecins Sans Frontières beteiligte sich ebenfalls am Verfahren. Der Anwalt der drei fordert nun vor der Einzelrichterin, das Geld unter den im Testament eingesetzten Erben zu verteilen.
Die Cousine kannte die reiche Witwe nur vom Hörensagen
Die Gegenseite wehrt sich. Das Geld gehöre den gesetzlichen Erben, sagt die Anwältin einer 56-jährigen Bernerin. Diese Frau kannte die Verstorbene nur vom Hörensagen, die beiden waren Cousinen zweiten Grades. Sie kämpft stellvertretend für die übrigen gesetzlichen Erben, die sich aus dem Prozess heraushalten wollten. «Die Erblasserin hat mit ihrem Testament nur über 95 Prozent der Erbmasse verfügt», hält die Anwältin fest. «Für die ‹Reserve› von 5 Prozent hat sie die gesetzliche Erbfolge nicht aufgehoben.» Deshalb müssten die restlichen 230 000 Franken unter den gesetzlichen Erben aufgeteilt werden.
Der Anwalt des Augenarzts hält nichts von dieser Auslegung des Testaments. Er erinnert an den zweiten Teil der entsprechenden Passage: «Hätte die Reserve nicht ausgereicht, wären die eingesetzten Erben zur Kasse gebeten worden. Damit ist doch klar, dass derselbe Personenkreis profitieren soll, wenn es einen Überschuss gibt.»
Mit dieser Interpretation punktet er beim Gericht. Die Einzelrichterin schlägt den Parteien einen Vergleich vor, der für die beklagte Cousine auf ein Nullsummenspiel hinausläuft. Die drei Kläger zahlen der 56-Jährigen eine Parteientschädigung für die Kosten der Anwältin und über-nehmen die Gerichtskosten. Zusammen sind das rund 10 000 Franken.
Im Gegenzug erhalten die Kläger die 230 000 Franken.
Bei Uneinigkeit entscheidet das Gericht
Wenn jemand stirbt, gehen alle Schulden und Guthaben an die Erben über.
Mehrere Erben bilden eine Gemeinschaft. Sie können nur gemeinsam und mit Zustimmung aller Mitglieder über den Nachlass verfügen. Das gilt auch für die Verteilung des Vermögens, das nach der Bezahlung aller Rechnungen übrigbleibt. Sind sie sich einig, regeln sie die Aufteilung in einem Erbteilungsvertrag. Im Streitfall entscheidet das Gericht. Voraussetzung ist, dass mindestens ein Erbe eine Erbteilungsklage einreicht.