Noch vor wenigen Jahrzehnten waren sich Verhaltensforscher einig: Tiere können zwar lernen, einfache Werkzeuge zu benutzen und zu kommunizieren. Doch diese Fähigkeiten wurden auf angeborene Verhaltensweisen zurückgeführt. Lange galt es als unmöglich, dass Tiere denken können, ein Zeitgefühl und sogar ein Bewusstsein haben.
Diese Meinung geriet spätestens seit den Berichten über einen Schimpansen im Furuvik-Zoo im schwedischen Gävlein Ende der 1990er-Jahre ins Wanken. Santino, so der Name des Affen, liebte es, Besucher mit Steinen zu bewerfen. Die Wärter versuchten das zu unterbinden, indem sie die Steine aus dem Gehege entfernten. Daraufhin sammelte Santino seine Geschosse aus dem Wassergraben, der das Gehege umgab, und versteckte sie – frühmorgens, wenn der Zoo noch geschlossen und kein störender Wärter in Sicht war. Über 50 Verstecke räumten die Aufseher im Lauf der Zeit aus. Um die Steine griffbereit zu haben, stapelte Santino sie zu Haufen entlang des Wassergrabens, der ihn von den Besuchern trennte.
Anekdoten wie diese machen das neue Buch des Verhaltensbiologen Ludwig Huber zu einem Leseerlebnis. Auf über 600 Seiten beschreibt er, wie Tiere planen, sich in andere hineinversetzen und kreativ auf neue Situationen reagieren. Geradschnabelkrähen etwa stellen aus Zweigen nicht nur passgenaue Haken her, um Maden aus Baumrinden herauszulösen – sie verstecken ihre Werkzeuge auch, um sie vor Diebstahl zu schützen.
Der Nachweis rationalen Handelns führt auch zu der Frage, wie der Mensch mit Tieren umgeht. Man dürfe «nicht nur wollen, dass die Tiere überleben», schreibt Huber. Man müsse auch wollen, «dass sie eine Lebensqualität haben, die ihren Bedürfnissen und ihrer Würde entspricht».
Ludwig Huber, «Das rationale Tier», Suhrkamp, Berlin 2021, 670 Seiten, ca. 37 Franken