Seit seiner Geburt lebt der Winzer und Ex-Gemeinderat Stefan Reichling im «Chälhof» bei Stäfa am rechten Ufer des Zürichsees. Doch die schöne Wohnlage hat einen Haken: Hier werden die Grenzwerte der Lärmschutzverordnung durch den Autoverkehr regelmässig und zum Teil massiv überschritten. «Unter der Woche beginnt die Rush-hour um 6 Uhr in der Früh. Ruhiger wird es erst ab 9 Uhr.» Das gleiche Szenario am Abend. Das schränkt die Lebensqualität enorm ein. «Das Fenster kann ich in der Nacht nicht öffnen und im Sommer ist es unmöglich, gemütlich im Garten zu sitzen», sagt Reichling.
So wie ihm geht es vielen. Der Grund: Die Kantone setzen nicht das um, was sie laut Lärmschutzverordnung umsetzen müssten. Dort sind seit 1986 verbindliche Obergrenzen festgelegt (siehe Kasten). Das heisst: Niemand darf Lärm ausgesetzt sein, der diese Grenzwerte überschreitet. Die Kantone hatten eine erste Umsetzungsfrist bis 2002 und eine zweite bis 2018. Bis dahin hätten sie die Vorgaben mit Temporeduktionen und baulichen Massnahmen erfüllen müssen. Das sind zum Beispiel Flüsterasphalt auf den Strassen oder Schallschutzwände.
Doch getan hat sich nicht viel: Gemäss dem Bundesamt für Umwelt leben immer noch 1,1 Millionen Menschen in Wohnungen und Häusern, in denen der Lärmhöchstwert am Tag und in der Nacht zum Teil massiv überschritten wird.
Eine saldo-Umfrage bei den zuständigen kantonalen Stellen zeigt: Bei offenem Fenster sind im Kanton Zürich 300 000 Einwohner Belastungen über den Grenzwerten ausgesetzt. Im Kanton Aargau sind 110 000 Personen von zu hohen Immissionswerten betroffen. Im Kanton Luzern sind es 69 000, in Basel-Stadt sind es 37 000. Im Kanton Baselland sind 22 000 Menschen lärmgeplagt, im Kanton Thurgau 23 000.
Lärmreduktion dank Schneefall – die Autos fuhren langsamer
Wie schön es am Ufer des Zürichsees sein könnte, erlebte der lärmgeplagte Stefan Reichling in den vergangenen Tagen, als es schneite: «Es waren weniger Autos auf der Strasse, und sie fuhren viel langsamer als sonst.» Beim «Chälhof» gilt Tempo 60. Zur Lärmsanierung wollte die Baudirektion des Kantons Zürich Schallschutzfenster einsetzen. Das war den Anwohnern zu wenig: Sie schlossen sich zu einer Interessengemeinschaft zusammen. Für Reichling ist die Temporeduktion auf 30 km/h die wirkungsvollste, einfachste und billigste Massnahme gegen Lärm: «Sie kann sofort und ohne grosse Kosten umgesetzt werden.»
Der Kanton sah das anders. Die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit sei eine «unverhältnismässige Betriebseinschränkung». Tempo 30 würde den Verkehrsfluss «in nicht hinnehmbarer Art und Weise beeinträchtigen», hielt die Baudirektion im Entscheid vom 31. Oktober 2016 fest. Reichling erklärt: «Weiter seeabwärts, schon ab Höhe Erlenbach in Richtung Zürich, ist der Verkehr derart dicht, dass eh kein Autofahrer über 40 km/h fahren kann.»
Die Interessengemeinschaft rekurrierte gegen den Entscheid der Baudirektion. Sie stützte sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichts. Der Kanton Zug hatte in einem ähnlichen Fall Tempo 30 wegen der zu erwartenden Staus abgelehnt. Die obersten Richter gaben sich jedoch nicht mit Spekulationen und Vermutungen zufrieden. Sie verlangten eine Studie samt Versuch. Es gab einen Test mit Tempo 30 – und Ende 2018 verfügte die Zuger Baudirektion die Einführung von Tempo 30.
Auch Reichling und seine Interessengemeinschaft hatten Erfolg: Das Baurekursgericht wies die Baudirektion im Juni 2017 zur Neubeurteilung an. Deren Vorgehensweise sei «nach Massgabe der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung unhaltbar». Die Zürcher Baudirektion hätte ein Gutachten über die Folgen von Tempo 30 oder 50 in Auftrag geben müssen. Die Sache schien klar. Auch für Reichling: «Leider ist bis heute nichts passiert.»
Peter Ettler ist Anwalt und Präsident der Lärmliga Schweiz. Ihn überrascht diese Untätigkeit nicht: «Im Kampf gegen zu hohe Lärmwerte gibt es auf der rechtlichen Schiene oft Siege, ohne dass im Vollzug etwas passiert.» Ettler fordert: «Als kleines, reiches Land könnten wir eine Vorreiterrolle einnehmen und den Import der schweren Autos mit breiten Pneus verbieten. Diese sind besonders laut.» Ohne Importverbot bringe ein Mix aus Temporeduktion, Flüsterbelag, schmaleren Pneus, kleinen Elektrofahrzeugen und Lärmschutzwänden am meisten. Allein die Reduktion von Tempo 50 auf 30 reduziere den Lärm um etwa die Hälfte.
Stresshormone durch Lärm beeinflussen den Blutdruck
Für Sophie Höhn, Sektionschefin Strassenverkehrslärm im Bundesamt für Umwelt, ist die Faktenlage klar: «Lärm gefährdet die Gesundheit.» Das zeigt die Studie «Sirene» von Martin Röösli, Professor für Umweltepidemiologie an der Universität Basel. Er geht davon aus, dass rund 500 der jährlich etwa 20 000 Todesfälle in der Schweiz aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Verkehrslärm zurückzuführen sind. Zum Vergleich: Im Strassenverkehr starben 2017 in der Schweiz 230 Menschen. Lärm wirkt unter anderem dadurch tödlich, weil die vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen den Blutdruck beeinflusst. Das führt zum Beispiel zu Herzinfarkten und Schlaganfällen.
Theoretisch könnte jeder lärmgeplagte Bürger gegen die Kantone als Strassenbesitzer klagen. Doch Lärmliga Präsident Peter Ettler weiss, dass dies unrealistisch ist: «Das kostet schnell 30 000 bis 40 000 Franken.» Die Lärmliga plant deshalb Musterprozesse für Besitzer von Liegenschaften an zu lauten Strassen. Hauseigentümer oder betroffene Mieter können im Klagepool mitmachen und vor Gericht Schadenersatz fordern. Klagewillige müssen für eine erste Prozessphase 1000 Franken als À-fonds-perdu-Betrag zahlen, für Mitglieder liegt der Betrag bei 800 Franken (www.laermliga.ch). Eine spezialisierte Anwaltskanzlei führe dann Musterprozesse bis vor Bundesgericht. Bei Erfolg starte eine zweite Prozessphase, in der weitere Fälle eingeklagt würden. Dazu werde nochmals ein gleich hoher Betrag aller Teilnehmer fällig. Bei Erfolg der Klagen und dem Zuspruch von Entschädigungen müssen die Klagepoolteilnehmer die ersten drei Jahresentschädigungen an die prozessführende Institution abtreten. Das ist gemäss Ettler nötig, um die anfallenden Anwaltskosten zu finanzieren.
Grenzwert: 60 Dezibel bei offenem Fenster
Die Lärmgrenzwerte sind in der Lärmschutzverordnung festgeschrieben. Gemessen wird in Dezibel. Bei Gebäuden werden die Lärmimmissionen in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume ermittelt. In reinen Wohnzonen gilt ein Grenzwert von 60 Dezibel am Tag und 50 Dezibel in der Nacht, in Industriezonen sind es 70 bzw. 60 Dezibel.
Zum Vergleich: Ein Gewehrschuss knallt mit 160 Dezibel. Bei einem Lastwagen mit 50 km/h werden 85 bis 95 Dezibel gemessen, bei einem Personenwagen 60 bis 80.