Jeder Kanton und jede Gemeinde verfolgt eine eigene Steuerpolitik. Folge: ein intensiver Wettbewerb um die besten Steuerzahler. Die Medien publizieren Ranglisten mit den tiefsten Spitzensteuersätzen oder die Namen der Steueroasen mit den höchsten Millionärsdichten.
Es gibt aber noch einen ganz anderen Steuerwettbewerb. Dabei geht es um die einkommensschwachen Personen. Viele Kantone setzen die Steuereintrittsschwelle – also den Beginn der Steuerpflicht – möglichst tief an. Das macht sie unattraktiv für Leute mit wenig Einkommen.
Einen aktuellen Überblick gibt der jährlich publizierte Bericht «Steuerbelastung in der Schweiz» der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Diese rechnet für die Kantonshauptorte aus, ab welchem Bruttoeinkommen jemand Steuern zahlen muss.
In Schwyz begann die Steuerpflicht für Ledige 2017 bei einem Jahreseinkommen von 4650 Franken, in Appenzell Innerrhoden bei 4865 Franken (siehe Tabelle im PDF). Wer also rund 400 Franken monatlich verdient und damit unter dem Existenzminimum lebt, zahlt in diesen Kantonen bereits Steuern. Zum Vergleich: In Zürich liegt die Eintrittsschwelle bei 10 880 Franken, in Zug, Luzern, Schaffhausen und Solothurn zwischen 12 000 und 15 000 Franken. In Basel zahlt eine ledige Person erst ab einem Jahreseinkommen von 27 000 Franken Steuern. In Appenzell müsste man mit diesem Einkommen rund 1400 Franken an den Fiskus abliefern, in Zürich 1600 Franken und in Schwyz sogar 2500 Franken. Für jemanden, der jeden Franken umdrehen muss, ist das viel Geld.
Besonders hart trifft es Alleinerziehende
Über alle Familienverhältnisse hinweg gesehen, führen immer Schwyz oder Appenzell die Rangliste mit den tiefsten Schwellenwerten an. Das heisst: Sie sind das härteste Pflaster für Einkommensschwache. Einzig bei der Kategorie «Alleinstehende mit Kindern» gehört Schwyz nicht mehr dazu – dafür fallen Luzern und Solothurn negativ auf. Da Alleinerziehende besonders armutsgefährdet sind, würde man in allen Kantonen mehr oder weniger gleiche Werte erwarten. Doch die Unterschiede sind gewaltig: Am höchsten ist die Schwelle in Genf mit 81 845 Franken, am tiefsten in Appenzell mit 37 000 Franken.
Für die Caritas Schweiz ist die Steuerpolitik auf dem Buckel der Ärmsten unverständlich. «Es ist stossend, wenn sich Kantone bei der Steuereintrittsschwelle gegenseitig zu unterbieten versuchen», sagt Sprecher Stefan Gribi. Die Organisation setzt sich für die Steuerbefreiung des Existenzminimums ein. Dieses ist je nach Wohnort und Lebenslage unterschiedlich. Es soll unter anderem den Grundbedarf an Lebensmitteln sowie Wohn- und Gesundheitskosten decken.
Sébastien Mercier, Geschäftsleiter bei der Schuldenberatung Schweiz, findet «diese Art von Steuerwettbewerb eine Schande».
Zürich und Schwyz könnten sich Einkommensschwache durchaus leisten. Sie zählen zu den reichsten Kantonen – und müssen entsprechend hohe Beiträge in den nationalen Finanzausgleich zahlen: 529 Millionen und 199 Millionen Franken. Solothurn, Luzern und Appenzell Innerrhoden sind dagegen relativ arme Kantone. Sie erhalten viel Geld aus dem Topf: 324 Millionen, 127 Millionen respektive 9 Millionen Franken.
Die Kantone weisen den Vorwurf zurück, dass sie mit ihrer Steuerpolitik schlechte Steuerzahler fernhalten oder verdrängen wollen. Der Schwyzer Finanzdirektor Kaspar Michel (FDP) sagt aber: «Im Kanton Schwyz will eine Mehrheit der Stimmbürger keine grossen Anteile an Steuerpflichtigen, die aus der Steuerpflicht entlassen sind.» Tatsächlich lehnte das Schwyzer Stimmvolk 2017 eine SP-Initiative ab. Diese wollte die Steuereintrittsschwelle für Ledige auf 12 000 Franken anheben. Die Erhöhung hätte die Ärmsten um 1,5 Millionen Franken jährlich entlastet. Zum Vergleich: Aufgrund der massiven Senkung der Vermögenssteuern und der grosszügigen Rabatte auf Dividenden entgingen dem Kanton in der Vergangenheit rund 600 Millionen Franken. Auch die Zürcher lehnten 2011 ein Steuerpaket ab, das die Steuersätze im Kanton bei den tiefen und sehr hohen Einkommen reduzieren sollte.
Werner Nef ist Leiter der Steuerverwaltung von Appenzell Innerrhoden. Der Kanton zählt bei Bruttoeinkommen von einer Million Franken zu den steuergünstigsten Kantonen der Schweiz. Nef sagt, dass trotz tiefer Steuereintrittsschwelle jeder sechste Einwohner keine Steuern zahle. Werde die Schwelle deutlich erhöht, würde die Zahl der Nichtsteuerpflichtigen rasch ansteigen. Und das sei in dem ländlich geprägten Kanton nicht «wünschenswert».
Immerhin: Zwei Kantone sind sich bewusst, dass etwas mit ihrer Steuerpolitik nicht stimmt. Solothurn erklärt, dass bei der nächsten Steuervorlage für die tiefsten Einkommen «klare Verbesserungen» vorgesehen sind. Und auch Luzern sieht «Handlungsbedarf für eine Tarifkorrektur».