Als 1989 die Fichenaffäre aufflog, war die Empörung gross: Polizeispitzel von Gemeinden, Kantonen und Bund hatten über Jahrzehnte rund 900 000 Leute und Organisationen ausspionieren lassen.
Vergangene Woche fand in Zürich dazu eine Podiumsdiskussion statt. Titel: «30 Jahre Fichenaffäre – warum lassen wir uns heute freiwillig überwachen?» Die Frage ist falsch gestellt. Von Freiwilligkeit kann heute keine Rede sein: Die Bevölkerung wird auf Schritt und Tritt digital überwacht – meist ohne ihr Wissen und ohne ihr Einverständnis. Ein fiktiver Tagesablauf von Herrn oder Frau Schweizer zeigt das im Detail.
4.35: Fitnessuhr am Arm
Es gibt Leute, die trennen sich auch nachts nicht von ihrer Uhr oder ihrem Fitnessarmband. Dieses misst auch Bewegungen, Herzfrequenz, Hautspannung, Stresswerte und das Schlafverhalten. Mit Hilfe von Apps werden die Daten ohne Wissen der Betroffenen an App- und Smartphonehersteller und weitere Firmen übermittelt («K-Tipp» 1/2020).
5.15: Handy auf dem Nachttisch
Ist das Handy in der Nacht eingeschaltet, wissen der Telekomanbieter, der Handyhersteller oder die Hersteller von installierten Apps genau, wo sich das Gerät gerade befindet. Das eingebaute Mikrofon und die Kamera können ferngesteuert in Betrieb genommen werden, ohne dass es der Besitzer merkt. Selbst Ausschalten bietet nur Schutz vor Überwachung, wenn der Akku entfernt ist oder sich das Handy in einem anderen Raum befindet.
7.15: Sprachassistenten hören mit
Nicht nur Smartphones verfügen über Mikrofone, auch Lautsprecher. So etwa Alexa von Amazon. Sogenannte Sprachassistenten von Apple, Amazon und Google sind Wanzen im Wohnzimmer. Jede Frage wir per Internet an den Hersteller übermittelt, dort bearbeitet und gespeichert. Zudem können Hersteller oder Hacker die Mikrophone in den Lautsprechern unbemerkt einschalten. Vergangenes Jahr wurde bekannt, dass Alexa von Amazon jeden Tag Tausende von aufgezeichneten Gesprächen von seinen Mitarbeitern analysieren liess. Und zwar ohne Wissen der Kunden.
7.45: Telefonanruf und E-Mails
Alle Anrufe und E-Mails müssen in der Schweiz gemäss Anordnung des Bundes von der Telekomfirma gespeichert und bei Bedarf an die Behörden herausgegeben werden. Die Telekomfirmen sind gesetzlich verpflichtet, die Daten aller Kunden während sechs Monaten zum Zweck «rückwirkender Überwachung» aufzubewahren. Bei den Telefonaten werden die Nummern der Gesprächspartner gespeichert, beim Internet der Zeitpunkt der Einwahl ins Internet und die sogenannte IP-Nummer, mit der sich der Computer bei jeder Website anmeldet. Bei E-Mails werden Absender, Empfänger und Betreffzeile gespeichert.
8.15: Weg zum Bahnhof
Der öffentliche Raum wird mit immer mehr Kameras ausgestattet. Allein in der Stadt Zürich überwachen über 2000 Kameras das Geschehen auf Strassen und Plätzen. In den Bussen und Trams sowie an den Haltestellen der Verkehrsbetriebe Zürich zählte das Newsportal Lokalinfo vor zwei Jahren 1890 Kameras.
8.30: Mit der Bahn zur Arbeit
Auch die SBB überwachen ihre Kunden. Bereits im Jahr 2015 hatte der Bundesbetrieb 13 600 Kameras in Bahnhöfen und Regionalzügen montiert. Zwei Jahre später stattete er auch die Fernverkehrszüge mit Videoüberwachung aus. Über die aktuelle Zahl der Kameras geben die SBB keine Auskunft. Auch die SBB-App sammelt viele Daten: Alter, Geschlecht, Wohnort, Aufenthaltsort, Abfahrts- und Ankunftsort: Das lässt sich unter Erklärungen zur «Werbung auf SBB.ch» nachlesen. Die Daten geben die SBB ihren Werbekunden weiter.
9.15: Geld abheben
Zu den Kameras auf öffentlichem Grund kommen private Kameras. Zum Beispiel in den Banken und bei ihren Bancomaten. Die Überwachung erfolgt meist heimlich. Eine saldo-Stichprobe bei UBS, CS und Valiant ergab, dass sich nirgends Hinweise auf die Kameras fanden (Ausgabe 13/2015).
9.45–17.45: Im Büro
Elektronische Zutrittskontrollen der Firmen registrieren, wer wann ein und aus geht. Die Software des Computers am Arbeitsplatz kann alle Eingaben der Tastatur aufzeichnen und E-Mails und Surfverhalten überwachen. Kommt dazu: Informationen über sämtliche Tätigkeiten auf dem Computer können auch an die Hard- und Softwarefirmen gehen.
12.15: Mittagessen
In der Kantine wird das Mittagessen mit der Kreditkarte bezahlt. Der Betrieb kann damit das gewählte Menü der Person zuordnen. Und die Kreditkartenfirma weiss, wann, wo und zu welchem Preis der Kunde in der Regel seinen Lunch einnimmt.
18.15: Mit dem Auto vom Bahnhof nach Hause
Autofahrer können zwar digitale Kartendienste abschalten, aber der grösste Datensammler ist ihr Auto selbst. ABS, Abstandsregler, Notbremssystem, Regensensor, Spurhaltesystem, das eingebaute Navigationssystem – in modernen Automodellen verarbeiten Hunderte von Mini-PCs Millionen von Daten.
Tempo, Fahrweise, gefahrene Strecke – solche Daten werden mindestens an den Hersteller übermittelt – ohne Wissen und Zutun des Fahrers. Sie können die Überwachung nicht abstellen («K-Tipp» 8/2016). Seit einigen Jahren verwenden zudem verschiedene Gemeinde- und Kantonspolizeien das Kontrollschilderkennungssystem «Catch Ken». Es filmt die Autonummern und vergleicht sie mit einer Datenbank. Im Kanton Thurgau wurden so 829 444 Kontrollschilder erfasst. Laut Bundesgericht waren diese Aufzeichnungen illegal.
18.30: Abendeinkauf
Viele Supermärkte überwachen die Kunden mit Kameras. Laut der «NZZ am Sonntag» testet die Migros Zürich zurzeit Überwachungskameras, die Kunden auch im Nachhinein nach bestimmten Merkmalen wie Körpergrösse, Geschlecht oder Haarfarbe filtern können. Auch wird bereits mit Gesichtserkennungssoftware experimentiert.
Das Zahlen mit Karte oder Smartphone hinterlässt ebenfalls digitale Spuren: Alle Einkäufe werden gespeichert. Kunden, die ihre Einkäufe mit einem Self-Scanning-System erfassen, verraten Coop und Migros auch, wie lange der Einkauf dauert oder in welcher Reihenfolge eingekauft wird (saldo 20/2014). Und: Jedesmal, wenn man seine Kundenkarte vorweist, sammeln die Grossverteiler Daten über die Kartenbesitzer («K-Tipp» 2/2019).
20.15: Abends vor dem TV
Die TV-Box von Swisscom, UPC oder Sunrise erheben und speichern Daten über die angeschauten Sendungen. Die Telekomfirmen wissen, welche Haushalte welche Sendungen wie lange anschauen. Viele moderne Fernseher haben zudem Mikrofon und Kamera eingebaut – und verfügen über eine Internetverbindung. Ist das TV-Gerät ans Internet angeschlossen, können Dritte über Mikrofon und Kamera Aktivitäten im Haushalt aufzeichnen («K-Tipp» 4/2015).
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