Thomas Flury nennt sich «Währungsstratege». Als solcher macht er sich Gedanken zur Entwicklung des Euros und des Schweizer Frankens. Für ihn ist laut der «Neuen Zürcher Zeitung» klar, dass die Schweiz auf «einen Paritätskurs» zusteuert, sprich: die wertmässige Gleichheit von Franken und Euro. Allerdings sei vorerst die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Franken gegenüber dem Euro noch teurer werde: «Erst in der zweiten Jahreshälfte, wenn das europäische Wachstum mehr Stärke gewinnt, rechnet Flury mit einer Kurserholung in Richtung Fr. 1.05.»
Marcus Hettinger ist zwar kein «Währungsstratege», aber immerhin ein «Experte». Er nennt sich «Foreign Exchange Analyst». Auf Deutsch: Er beobachtet die Entwicklung der Wechselkurse. Etwas, das zurzeit wohl viele tun. Hettinger kommt im «St. Galler Tagblatt» zum Schluss, «dass man auf längere Frist mit einer gewissen Stabilisierung, wenn nicht Erholung des Euros gegenüber dem Franken rechnen muss». Hettinger erwartet eine «Handelsspanne von rund Fr. 1.00 bis Fr.1.10».
Mit andern Worten: Die beiden Herren spekulieren wild drauflos. Beide sagen, der Euro werde im Vergleich zum Franken möglicherweise noch mehr an Wert verlieren, dann aber wieder steigen. Aber niemand kann sagen, wann das ist und in welchem Ausmass das der Fall sein wird. Hauptsache, man hat etwas gesagt.
An diese Regel hält sich auch der ehemalige UBS-Banker Klaus Wellershoff im «Blick»: «Wenn die Unternehmen ihre Euroeinnahmen kurssichern und Schweizer Anleger sich vom Euro verabschieden, kann der Euro noch stärker werden.» Verstanden?
Zwei Zeitungen und zwei Expertenmeinungen
Welche Auswirkung hat die Aufwertung des Frankens auf die Einwanderung? Auch hier tappen die Experten offensichtlich im Dunkeln: Beat Kappeler, Ökonom und Kolumnist der «NZZ am Sonntag», ist begeistert vom Entscheid der Nationalbank. Denn: «Nun gehen einige Probleme wohl ohne weiteres Zutun einfach weg: Die Stellen werden rarer, womit die Einwanderung zurückgeht.» Das ist eine klare Aussage, an die sich der Leser halten kann – sofern er nicht gleichzeitig den «Tages-Anzeiger» liest. Denn dort steht das Gegenteil. Der Tagi stützt sich in seiner Berichterstattung auf den ehemaligen Preisüberwacher Rudolf Strahm: «Er warne davor, aus einer allfälligen Wachstumsschwäche auf weniger Arbeitskräfte zu schliessen, sagt der SP-Ökonom. Der Grund: Bei einem starken Franken steige der Kosten- und Lohndruck für Unternehmer. Und das könnte sogar zu mehr Rekrutierungen von günstigen ausländischen Arbeitskräften führen.»
Ähnlich ratlos bleibt der Zeitungsleser bei der Frage, ob die Preise für Wohneigentum nun steigen oder nicht. Ein Ökonom des Zürcher Immobilienberatungsunternehmens Wüest & Partner prognostiziert in der «Ostschweiz am Sonntag»: «Es ist jetzt noch attraktiver, Wohneigentum zu kaufen.» Ganz anders sieht das Ökonom Kappeler: «Die Immobilienblase findet nicht statt, die Bautätigkeit überbordet nicht mehr.»
Und wie wirkt sich der Entscheid der Nationalbank auf die Löhne, die Beschäftigungslage und die Arbeitszeiten aus? Die «Neue Zürcher Zeitung» und der «Tages-Anzeiger» stützen sich bei ihren Antworten auf eine Modellrechnung des Ökonomen Peter Stalder. Der ETH-Dozent prognostiziert «einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und einen Rückgang von Preisen und Löhnen. Konsum und Wohnbauinvestitionen sinken.»
Davon ist auch der Chef des Personalvermittlers Adecco überzeugt. Lohnkürzungen seien unvermeidlich, tut er bei «Cash online» kund. Und längere Arbeitszeiten seien «absolut» nötig: «Es gibt keine Alternative.» Auch Industrieberater Philipp Anghern winkt in der «Basler Zeitung» mit dem Zaunpfahl: «Lohnkürzungen sind eine Variante, die geprüft werden muss.»
Freie Bahn für die Lautsprecher der Interessengruppen
Alles klar? Nein. Zwar will jede Lobby in den Medien ihre Botschaften platzieren. Unverständlich ist, dass die Medien das Schreiben und Denken an Lobbyisten jeglicher Couleur delegieren und nur noch als Lautsprecher von Interessengruppen wirken – ohne dies in den Beiträgen erkenntlich zu machen. Klar ist: Die Banken, die Arbeitgeber, die Liegenschaftenhändler und die Einwanderungspropheten – alle bringen sie gerne auch beim Thema Frankenaufwertung ein Argument, das Wasser auf ihre Mühlen spült. Aber Job der Journalisten wäre es, die Argumente zu sammeln, auszuwählen und zu bewerten – und so der Leserschaft Orientierungshilfe zu bieten.
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