Helmut Mayer arbeitete 15 Jahre im deutschen Atomkraftwerk Biblis, zuletzt als Betriebsleiter. Er versteht also etwas von technischen Abläufen bei solchen Reaktoren.
Er sagt, dass ein einfaches Leck in einem der über 2000 Dampferzeuger-Heizrohre eines Druckwasserreaktors zu einer unglücklichen Kettenreaktion führen kann. Ein solcher Störfall hätte eine unkontrollierbare Hitzeentwicklung im Reaktorkern zur Folge. Brennstäbe könnten sich verbiegen, würden aufplatzen und die Steuerung des Reaktors erschweren. «Nach dem heutigen Stand der Untersuchungen kann sogar eine atomare Explosion nicht sicher ausgeschlossen werden», sagt Mayer. «Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Störfalls ist erheblich.»
Das von ihm für möglich gehaltene Szenario komme bisher in keinem Betriebshandbuch vor und sei in der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA noch nie diskutiert worden. Passiert ist bisher zum Glück nichts.
Mayer erkannte das Problem, als er vor drei Jahren die Berichte zur Explosion im Block 3 im japanischen Fukushima las. Er kam zum Ergebnis: Was in Fukushima ablief, kann auch in Druckwasserreaktoren in Europa passieren. Zwei solche Reaktoren stehen im aargauischen Beznau und einer im solothurnischen Gösgen.
Wiener Kernphysiker bestätigt Lücke im Sicherheitssystem
Das Magazin «Der Spiegel» titelte vor zwei Wochen: «Atombombe im AKW.» Der ehemalige Leiter der deutschen Atomaufsicht, Wolfgang Renneberg, hält diese Schlagzeile für etwas übertrieben. Doch der Professor bezeichnet das Störfallszenario als potenziell sehr gefährlich.
Nicht ohne Grund: Ein Kernphysiker im Wiener Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften, das Renneberg stellvertretend leitet, hat den Störfallablauf nachgerechnet und die Sicherheitsprobleme bestätigt. «Es besteht eine Lücke im Sicherheitssystem von Druckwasserreaktoren», so Renneberg. Es müsse nun nachgewiesen werden, dass das Störfallszenario beherrscht werden könne. «Solch eine gravierende Sicherheitsfrage darf nicht offenbleiben», fordert er. Die Atomaufsicht im deutschen Bundesumweltministerium wird deshalb die beiden Experten zu einem Fachgespräch laden, wie das Amt gegenüber saldo bestätigt.
Die Schweizer Atomaufsichtsbehörde Ensi spielt das Problem herunter. Der Störfall sei bekannt und die Reaktoren in Beznau und Gösgen dagegen gerüstet, schreibt die Ensi als Antwort auf eine saldo-Anfrage auf ihrer Website. Die Behörde argumentiert, dass alle drei Reaktoren über jeweils zwei sogenannte Borierungssysteme verfügen. Diese könnten bei einem Störfall eine grössere Menge des chemischen Stoffes Bor in den Reaktorkern einschiessen und so die Kettenreaktion unterbrechen. Zudem sei bei allen drei Reaktoren nachgewiesen worden, dass sie auch nach einem Heizrohrbruch beherrschbar sind.
«Atomaufsicht sollte sich dem gefährlichen Problem annehmen»
Helmut Mayer beruhigen diese Argumente nicht. Auch das AKW Biblis hätte über die entsprechenden Nachweise und zwei Borierungssysteme verfügt. Dennoch ist laut seinen Analysen nach einem Rohrbruch dort ein weitaus gravierender Unfallverlauf möglich als bisher angenommen.
Mayer empfiehlt: «Die Schweizer Atomaufsicht sollte sich dem gefährlichen Problem annehmen. Die Betriebshandbücher der Schweizer Druckwasserreaktoren sollten zwingend überprüft werden.»
Die Ensi sieht jedoch keinen Anlass für Abklärungen. Man werde aber die Resultate allfälliger Überprüfungen von deutschen Reaktoren durch die deutschen Behörden analysieren.