Ein schwerer Unfall auf der A 1 im Kanton Aargau: Der Fahrer ist im Wrack seines Autos eingeklemmt. Doch die alarmierte Ambulanz kann keinen Notarzt aufbieten. Darum muss der Rettungssanitäter entscheiden, ob das Opfer aus dem Wagen herausgeschnitten und ins Spital gebracht oder zuerst vor Ort stabilisiert werden soll. Der Sanitäter kann den ärztlichen Leiter der Ambulanz anrufen, wenn er unsicher ist. Nur: Der ärztliche Leiter ist weit weg, in der Zentrale des Rettungsdiensts.
Hätte sich der Unfall ein paar Kilometer weiter im Kanton Zürich ereignet, wäre mit der Ambulanz auch ein Notarzt ausgerückt. Das schreibt der Kanton Zürich seinen Rettungsdiensten zwingend vor. Der Aargau tut es nicht. Auch die Kantone Bern, Glarus, Graubünden, Schaffhausen und Zug verzichten auf eine Notarztpflicht, wie eine Umfrage bei den kantonalen Gesundheitsämtern zeigt.
In der Schweiz rücken die Rettungsdienste fast 500 Mal pro Tag zu lebensgefährlich verletzten Personen aus. Für den Arzt Oliver Reisten ist klar: «In vielen dieser Fälle sollte ein Notarzt dabei sein, besonders in komplexen Situationen.» Reisten ist Chefarzt des Rettungsdienstes am Solothurner Kantonsspital in Olten. Sein Dienst kann ab Mitte 2021 rund um die Uhr Notärzte aufbieten. Dafür stellen die Solothurner Spitäler sechs zusätzliche Ärzte ein.
Notärzte sind besser ausgebildet
Ohne Notärzte geht es nicht – das findet auch die Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin. Sie schreibt saldo: «Für die optimale Behandlung lebensgefährlich verletzter Personen sind Notärzte zwingend.» Es brauche dafür umfassende Kenntnisse, wie sie das Medizinstudium vermittle. Notärzte sind ausgebildete Ärzte mit zusätzlichem Fähigkeitsausweis in Notfallmedizin.
Die Kantone Aargau, Schaffhausen und Zug setzen dennoch nur auf Rettungssanitäter mit Weiterbildung in Anästhesiepflege. Diese können Patienten narkotisieren und ihren Zustand überwachen, haben aber keine umfassenden medizinischen Kenntnisse. Die Ausbildung zum Rettungssanitäter dauert in der Regel drei Jahre, die berufsbegleitende Weiterbildung zum Anästhesiepfleger zwei Jahre. Zum Vergleich: Bei einer Pflegefachperson sind es drei Jahre.
In einigen Kantonen unterscheidet sich die Versorgung sogar je nach Region. So rücken etwa in der Agglomeration der Stadt Bern Notärzte aus, in den ländlichen Gebieten des Kantons jedoch Hausärzte im Notfalldienst. Auch in Graubünden rücken anstelle von Notärzten zum Teil Hausärzte aus. Der Kanton Glarus prüft die Umstellung aufs Notarztsystem. Ein Notarzt steht jedoch nur an 280 Tagen im Jahr zur Verfügung.
Ein bis drei Rettungssanitäter in der Ambulanz – je nach Kanton
Was man bei den Kantonen nicht sagt: Es geht auch ums Geld. Notärzte sind teurer als Sanitäter. Eine Studie des Preisüberwachers von 2014 zeigt: Die Rettungsdienste in den genannten Kantonen ohne Notarztpflicht berechnen in der Regel weniger als Ambulanzen in den anderen Kantonen. Notfallrettungen können bis rund 2000 Franken kosten, die Preise schwanken stark (siehe Kasten).
In der Schweiz gibt es 16 regionale Notrufzentralen (Telefon 144). saldo weiss: Sie bieten Notärzte nach unterschiedlichen Kriterien auf. Dafür führt jede Zentrale eine eigene Liste. So verlangt zum Beispiel die Zentrale «144 Thurgau», bei Krampfanfällen oder Blutungen in der Schwangerschaft, einen Notarzt aufzubieten. Andere Notrufzentralen wie «144 Aargau» schreiben dies nicht vor.
Die Vorgaben der Kantone unterscheiden sich nicht nur bei den Notärzten. Auch sonst ist die Zusammensetzung der Rettungsteams je nach Kanton verschieden. So rücken bei Lebensgefahr laut den kantonalen Gesundheitsämtern in Basel-Stadt, Nidwalden, Tessin und Zürich immer zwei statt nur ein Rettungssanitäter aus. Im Kanton Zug sind es sogar drei Rettungssanitäter.
Riesige Preisunterschiede bei Ambulanzen
Die Ambulanzen haben sehr unterschiedliche Tarife. Der Preisüberwacher stellte 2014 in einer Untersuchung fest: Die teuersten Rettungsdienste verlangen für einen Notfalleinsatz bis zu drei Mal so viel wie die günstigsten. Laut Kaspar Engelberger vom Büro des Preisüberwachers sind die Tarife bis heute unübersichtlich: «Jede Ambulanz rechnet anders ab.» Der Preisüberwacher untersuchte die Tarife für Einsätze von 70 Minuten mit einer Fahrstrecke von 50 Kilometern. 2014 kosteten diese mit Notarzt 832 bis 1881 Franken. Mit Nachtzuschlag verlangte der teuerste Rettungsdienst sogar 2144 Franken.
Stossend: Krankenversicherte ohne Zusatzversicherung müssen die teuren Einsätze zu mindestens 50 Prozent selbst bezahlen, wenn es um eine Krankheit geht. Die Grundversicherung bezahlt höchstens 500 Franken jährlich, bei Rettungen aus lebensbedrohlicher Lage höchstens 5000 Franken. Besser abgedeckt sind Unfälle. Hier übernimmt bei Berufstätigen die obligatorische Unfallversicherung im Inland sämtliche Kosten.