Am 26. April 1986 explodierte in Tschernobyl (Ukraine) der Reaktor des Atomkraftwerkes. Dann bildete sich eine radioaktive Wolke, die über Mitteleuropa zog. Der radioaktive Niederschlag traf in der Schweiz Gebiete in Graubünden und dem Tessin besonders stark.
Auch 35 Jahre später finden sich in fast allen Wildpilzen aus den beiden Kantonen noch immer radioaktive Spuren. Das zeigen 124 Messungen der kantonalen Labore in Chur und Bellinzona. Die Laborexperten fanden fast immer krebserregendes Cäsium-137 – ein radioaktiver Stoff, der allein durch Kernspaltung entsteht. Nur 3 der 124 Proben strahlten nicht.
Den Höchstwert wies das Labor in Chur in Schleierpilzen nach: Die 3300 Becquerel pro Kilo überschritten den Grenzwert um das Viereinhalbfache. Klar über dem Limit lagen auch Hexenröhrlinge und Träuschlinge aus Graubünden sowie Maronenröhrlinge aus dem Tessin. Drei weitere Pilzproben lagen mit Werten über 500 Becquerel nur knapp unter dem Grenzwert: Bündner Röhrlinge und Reifpilze aus beiden Südkantonen. Im Durchschnitt wiesen die 124 Proben 144 Becquerel Strahlung auf. Der Grenzwert liegt bei 600 Becquerel pro Kilogramm.
Zum Vergleich: Zehn Proben von Wildpilzen aus den Kantonen Aargau, Glarus und Bern waren mit durchschnittlich 30 Becquerel deutlich weniger belastet – 84 untersuchte Importpilze sogar nur mit 9 Becquerel. Alle Messungen fanden zwischen 2018 und 2020 statt.
Grenzwert bei Wildschweinen ums 15-Fache überschritten
Tessiner Behörden entdeckten auch bei Wildschweinen Cäsium-137. Seit 2013 lässt der Kantonstierarzt alle auf der Jagd geschossenen Wildschweine auf Radioaktivität testen. Sein Bündner Kollege folgte im Jahr 2020. Resultat: Von den 5876 getesteten Wildschweinen strahlten 232 stärker als erlaubt. Der Spitzenwert betrug 9920 Becquerel, das ist das 15-Fache des Grenzwerts. Die Kantone lassen zu stark verseuchte Kadaver verbrennen. Ihre Strahlung hängt ebenfalls mit den Pilzen zusammen: Wildschweine fressen gern Hirschtrüffel. Diese Pilze speichern laut dem Bundesamt für Gesundheit besonders viel Radioaktivität. Sie sind für Menschen ungeniessbar.
Die Behörden spielen die Risiken beim Essen von kontaminierten Pilzen und Wildschweinfleisch herunter. Die Chefs beider Kantonslabore sehen auf eine saldo-Anfrage hin keinen Grund für Warnungen. Laut Philipp Steinmann vom Bundesamt für Gesundheit gibt es höchstens beim Wildschwein die Gefahr, dass Jäger und ihre Familien grosse Mengen essen. Gesammelte Wildpilze esse man dagegen nur in geringen Mengen: «Die Strahlenbelastung ist klein.»
Tipp: Auf regelmässigen Konsum verzichten
Martin Forter vom Verein Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz hingegen warnt: «Die Behörden nehmen das Thema Radioaktivität nicht ernst genug.» Auch das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz schreibt in einem aktuellen Bericht zu radioaktiv belasteten Pilzen: Wer seine Strahlenaufnahme «möglichst gering halten möchte, sollte auf den regelmässigen Verzehr» selbst gesammelter, besonders belasteter Wildpilzarten verzichten. Zu diesen zählen gemäss dem Bundesamt für Gesundheit Maronenröhrlinge und Reifpilze aus dem Tessin und Graubünden.