Der Stromriese Axpo will in Europa seinen Solarkraftwerkspark bis 2030 um 10 Gigawatt vergrössern. Das teilte der Konzern Mitte Februar mit. Gerade mal 0,2 Gigawatt dieses Ausbaus entfallen auf die Schweiz. Wenige Tage zuvor hatte der Stadtzürcher Stromversorger EWZ angekündigt, einen weiteren Windpark bei Blacy in Frankreich zu bauen – seinen zweiundzwanzigsten insgesamt.
Schweizer Elektrizitätsunternehmen investieren seit Jahren grosse Summen in Kraftwerke in ganz Europa. Bis Ende 2019 steckten sie dort mindestens 7 Milliarden Franken allein in erneuerbare Energiequellen. Inzwischen produzieren sie im Ausland total 35 bis 40 Milliarden Kilowattstunden (kWh) Strom pro Jahr. Davon stammen knapp 20 Milliarden kWh aus Wind-, Solar-, Kleinwasserkraft- und Biogasanlagen. Das zeigt eine neue Studie des Beratungsunternehmens Energie Zukunft Schweiz. Rund 12 Milliarden kWh kommen aus Gas- und Kohlekraftwerken, der Rest aus ausländischen Atomkraftwerk-Beteiligungen.
90 Prozent der Stromunternehmen in der Schweiz gehören den Kantonen und den Gemeinden. Viele davon sind im Ausland dick im Geschäft – nicht nur die Riesen Axpo, BKW, Alpiq und Repower, sondern auch regionale und städtische Stromversorger wie Romande Energie, EKZ, EBL, EWZ und IWB.
35 bis 40 Milliarden kWh Auslandsproduktion – das entspricht mehr als der Hälfte des jährlichen Stromverbrauchs der Schweiz. Da stellt sich die Frage: Woher kommt die Angst vor einer Stromlücke? Könnte das Land bei einer künftigen Mangellage nicht einfach auf den von Schweizer Unternehmen im Ausland produzierten Strom zurückgreifen?
Bis 2050 braucht die Schweiz 42 Milliarden kWh mehr Strom
Klar ist: Die Schweiz will wie Deutschland aus der Atomenergie aussteigen. Und sie muss wie alle Länder Europas mit einem wachsenden Strombedarf rechnen: Die Zahl der Elektrofahrzeuge nimmt stark zu, auch die Umstellung der Heizungen auf Wärmepumpen braucht viel Strom. Und zwar Strom aus erneuerbaren Energien. Denn Öl, Kohle und Gas haben vor allem aus Gründen des Klimaschutzes keine Zukunft mehr.
Der Bund rechnet fürs Jahr 2050 mit einem Strombedarf von 84 Milliarden kWh. Das sind 22 Milliarden kWh mehr als heute. Dazu kommt der Ersatz für den wegfallenden Atomstrom im Umfang von rund 20 Milliarden kWh. Das ergibt eine Stromlücke von rund 42 Milliarden kWh.
Mit ihrer schon heute im Ausland produzierten Elektrizität könnten die Schweizer Stromversorger fast die gesamte fürs Jahr 2050 prognostizierte Inlandlücke füllen. Nur: Niemand zwingt sie, ihren Auslandstrom zur Versorgung der Schweiz einzusetzen. «Der Bund hat keine rechtliche Handhabe, sie dazu zu verpflichten», heisst es beim Bundesamt für Energie. Dies sei Sache der Eigner, «also von Kantonen und Gemeinden».
saldo fragte bei diversen Kantonsregierungen und Verwaltungsräten von Stromversorgern nach. Stellvertretend drei typische Antworten:
- Martin Neukom, Regierungsrat (ZH/Grüne): «Die Eigentümer von Axpo und EKZ, also die Bevölkerung, profitieren vom im Ausland produzierten Strom aus erneuerbaren Quellen, da die Anlagen dort rentabel betrieben werden können.»
- Kaspar Sutter, Regierungsrat (BS/SP): «Die IWB verfolgt auch in der Schweiz aktiv Windkraftprojekte. Deren Umsetzung ist gegenüber den Projekten im Ausland aber ungleich schwieriger, da die Bewilligungsverfahren sehr anspruchsvoll und langwierig sind und die Schweiz keine vergleichbaren Fördersysteme wie das umliegende Ausland kennt.»
- Thomas de Courten, Nationalrat (BL/SVP) und Verwaltungsrat Genossenschaft Elektra Baselland (EBL): «Die EBL investiert systematisch in nachhaltige Projekte sowohl im In- wie im Ausland – dort, wo ein wesentlicher Nutzen für alle Anspruchsgruppen der EBL generiert werden kann.»
Für den Stromimport ist das europäische Netz nicht ausgelegt
Die Eidgenössische Elektrizitätskommission weist auf «physikalische Grenzen» hin: Die grenzüberschreitenden Kapazitäten des Stromnetzes seien beschränkt, beim Transport und Import von Strom könne es zu Netzengpässen kommen. «Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Produktion weit von der Schweiz entfernt ist.» Nötig sei darum ein Ausbau des europäischen Übertragungsnetzes, der aber viel Zeit brauche.
Besonders kritisch könnte es laut der Kommission werden, wenn die Europäische Union ab 2025 die 70-Prozent-Regel umsetzen sollte. Diese besagt, dass die EU-Länder mindestens 70 Prozent ihrer Kapazitäten für den Stromaustausch untereinander reservieren müssen. Die Schweiz könnte somit spätestens dann, wenn sich der Strom in der EU verknappt, deutlich weniger importieren.
Bereits vor zwei Jahren kritisierte Energieexperte Kurt Marti auf dem Internetportal Infosperber: «Die Schweizer Strombranche investiert Milliarden im Ausland und foutiert sich um die Sicherheit der Stromversorgung in der Schweiz.»
Damit die Branche künftig mehr in inländische Kraftwerke investiert, will der Bund die Bewilligungsverfahren beschleunigen. Und er will den Ausbau der Stromerzeugung im Winter mit Geld unterstützen, das die Konsumenten über einen Zuschlag von 0,2 Rappen pro kWh auf ihrer Stromrechnung zahlen sollen. Das bedeutet: Die Schweizer zahlen mehr für den Strom, weil ihre Stromversorger das erwirtschaftete Geld lieber im Ausland investieren.