Saldo verglich die amtlichen Zulassungen von mehr als 900 Pestiziden in der Schweiz und der EU. Resultat: Schweizer Landwirte dürfen mindestens 50 hochgefährliche Stoffe einsetzen. 12 davon sind in der EU verboten – wegen der Risiken für Mensch und Umwelt.
Hochgefährlich bedeutet: Sie stehen auf der «Schwarzen Liste hochgefährlicher Pestizide» des internationalen Pesticide Action Network. Die Liste beruht auf offiziellen Einstufungen der EU und weiterer Behörden. Ein Stoff kommt etwa auf die Liste, wenn die Internationale Agentur für Krebsforschung oder die Umweltschutzbehörde der USA ihn als krebserregend oder fortpflanzungsgefährdend einstuft.
Mehrere Stoffe müssten sofort verboten werden
Pestizide, die mindestens einen der 50 gefährlichen Stoffe enthalten, sind in der Schweiz als «gesundheitsschädigend» oder «gewässergefährdend» gekennzeichnet. Rund jeden zweiten dieser Stoffe stufen die Europäische Union oder die US-Umweltschutzbehörde als wahrscheinlich krebserregend, fruchtbarkeitsschädigend oder als mögliches Risiko für das Kind im Mutterleib ein.
Carla Hoinkes, Expertin für Landwirtschaft und Biodiversität bei der Nichtregierungsorganisation Public Eye, hält die Ergebnisse der saldo-Recherche für «bedenklich». «Vor allem Stoffe, die nachweislich langfristige Gesundheitsschäden bei Menschen hervorrufen, müssten sofort verboten werden.» Einige potenziell gesundheitsschädliche Stoffe finden sich auch im Fruchtfleisch von Mandarinen und Clementinen, wie eine saldo-Stichprobe ergab.
Das zuständige Bundesamt für Landwirtschaft schreibt saldo: «Wenn die EU eine Substanz zurückzieht, wird sie in den Monaten danach auch in der Schweiz überprüft.» Die Schweizer Zulassungsstelle entscheide auf der Grundlage derselben Studien. Bis jetzt habe die Schweiz 182 Stoffe zurückgezogen.
Schweizer Zulassungsbehörde reagiert zu langsam
Tatsächlich entzieht die Schweiz häufig Pestiziden die Zulassung, nachdem die EU das tat. Die zuständige Stelle beim Bundesamt reagiert aber nur langsam. Das stellt ein Bericht fest, den diverse Bundesämter bei der KPMG in Auftrag gaben. Die Wirtschaftsprüfungsfirma sollte 2019 bewerten, wie gut die Zulassung von Pestiziden in der Schweiz funktioniert. Sie kommt zum Schluss: «Fehlende Ressourcen in den Beurteilungsstellen führen zu Verzögerungen.» Die Zulassungsbehörde reagiere weder zeitgerecht noch angemessen auf Erkenntnisse zu Risiken von Pestiziden.
Dazu kommt: Selbst wenn Experten der Zulassungsstelle einem Stoff die Zulassung entziehen, dürfen Bauern ihn zunächst weiter einsetzen (saldo 10/2020). Die Verordnung zu Pflanzenschutzmitteln erlaubt Fristen von bis zu einem Jahr. In dieser Zeit dürfen Hersteller ihre Lagerbestände verkaufen. Und bis zu einem weiteren Jahr dürfen Bauern ihre Vorräte aufbrauchen. Die meisten der zwölf hochgefährlichen Stoffe, die in der Europäischen Union bereits verboten sind, dürfen in der Schweiz deshalb noch bis Juli 2022 eingesetzt werden (siehe Tabelle im PDF).
Landwirtschaftsexpertin Hoinkes kritisiert die lasche Praxis der Schweiz. Die Übergangsfristen für verbotene Stoffe müssten verkürzt werden, fordert sie. Der Landwirtschaftslobby dagegen geht die heutige Regelung nicht weit genug. Sie setzt sich beim Bund dafür ein, dass künftig immer zweijährige Übergangsfristen gelten.
Beispiel Glufosinat: Fünf Jahre länger zugelassen als in der EU
Wie lange es dauern kann, bis die Schweiz bedenkliche Stoffe aus dem Verkehr zieht, zeigt das Beispiel Glufosinat. Dieser Stoff wird in Unkrautvernichtungsmitteln eingesetzt. Die EU verbot ihn im Juni 2017, nachdem er als «reproduktionstoxisch» eingestuft wurde. Das heisst, er gefährdet die Sexualfunktion und Fruchtbarkeit bei Mann und Frau. Glufosinat kann ausserdem laut offiziellem Gefahrenhinweis «das Kind im Mutterleib schädigen» und ist «sehr schädlich für Wasserorganismen, mit langfristiger Wirkung». Die Schweizer Zulassungsbehörde entzog dem Stoff trotzdem erst im Januar dieses Jahres die Bewilligung. Bauern dürfen Produkte mit Glufosinat noch bis im Januar 2022 einsetzen – also fast fünf Jahre länger als in der EU.
Und nicht immer schliesst sich die Schweiz einem Verbot der EU an: Das gewässerschädigende Unkrautvernichtungsmittel Diuron etwa ist in der EU seit 2008 verboten. Forscher fanden über zehn Jahre später im deutschen Grundwasser noch immer eine hohe Konzentration des Stoffs vor. In der Schweiz ist die Verwendung des Herbizids nach wie vor erlaubt.