Kürzlich schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Die Schweizer werfen jährlich Millionen Tonnen von Essen weg.» «20 Minuten» titelte etwas zurückhaltender: «Haushalte werfen 1 Million Tonnen Lebensmittel weg.» Für die Leserschaft war auch das zu hoch gegriffen: «Falscher Titel», kommentierte ein Leser. «Wenn wir im Haushalt so viel wegwerfen würden, wäre ein Abfallsack oder der Kompost jede Woche allein voll mit Lebensmitteln.» Ein anderer schrieb: «Mit diesem Fakebericht wollen Sie uns ein schlechtes Gewissen einreden.»
Das Amt hat Bananenschalen und Rüstabfälle mitgerechnet
Die Zahl von 1 Million Tonnen basiert auf zwei Berichten des Bundesamts für Umwelt aus den Jahren 2012 und 2018 – sowie auf einer Studie aus England. Darin eingerechnet sind unvermeidbare Abfälle wie Bananen- und Orangenschalen sowie Rüstabfälle. Zählt man diese Abfälle ab, bleiben 460 000 Tonnen übrig. Davon landen angeblich 251 000 Tonnen im Kehrichtsack, 161 000 Tonnen im Hauskompost oder in der Kanalisation und 48 000 Tonnen in der Grünabfuhr der Gemeinde. Das macht pro Einwohner und Tag gut 160 Gramm Lebensmittelabfälle. Bei einer vierköpfigen Familie sind es 640 Gramm.
Erhebungen in bloss 33 Gemeinden
Wie hat das Bundesamt diese Zahlen erhoben? Für die erste Studie 2012 liess es die Zusammensetzung der Kehrichtabfälle in bloss 33 Gemeinden analysieren und befragte die Einwohner zu ihrem Wegwerfverhalten. Das Resultat rechnete das Bundesamt auf die damals knapp 2500 Gemeinden hoch. So kam es auf 251 000 Tonnen geniessbare Lebensmittel, die pro Jahr im Güselsack landen.
Es sei aber nicht auszuschliessen, schrieb das Bundesamt, «dass bei einzelnen Gemeinden die Abgrenzung zu den Abfällen aus Gewerbe und Industrie ungenau war». Und weiter: «Innerhalb einzelner Gemeindetypen können erhebliche Schwankungen auftreten – der Vergleich dieser Daten ist daher vorsichtig zu interpretieren.» Bei einer erneuten Durchführung, bedürfe es deshalb «einer breiteren Datenbasis».
Die Menge der Lebensmittel, die jährlich angeblich in der Grünabfuhr landen (48 000 Tonnen), erhob das Bundesamt 2018 zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dabei untersuchten die Experten das Grüngut von sechs Gemeinden und einer Region. Ergebnis: «Die Anteile der vermeidbaren Lebensmittelabfälle variierten zwischen 20 und 49 Prozent.» Dieser vermeidbare Anteil sei in städtischen Gemeinden mit rund 26 Prozent niedriger als in vorstädtischen und ländlichen Gemeinden mit rund 39 Prozent. Ein Schwachpunkt dieser Zahlen: In der Schweiz werden längst nicht überall Speisereste mit dem Grüngut entsorgt. Gemäss Bundesamt für Umwelt werden heute in rund 38 Prozent aller Gemeinden Rüstabfälle und Speisereste und in 30 Prozent der Gemeinden nur Rüstabfälle mit dem Grüngut entsorgt. In den restlichen Gemeinden nimmt die Grüngutabfuhr nur Gartenabfälle mit.
Die Autoren des Berichts relativieren seine Aussagekraft gleich selbst: «In Bezug auf die Hochrechnung kann dies zu einer Überschätzung der Gesamtmenge an Lebensmittelabfällen im Grüngut geführt haben.» Und noch ein Manko: «Diese Studie berücksichtigte Gemeinden aus sieben Kantonen der Deutschschweiz. Ob sich die Zusammensetzung des Grünguts zwischen den verschiedenen Sprachgebieten der Schweiz unterscheidet, wurde bisher nicht untersucht.»
Mangels Schweizer Daten eine Studie aus England genommen
Als wäre die bisherige Datenlage nicht schon dünn, zählt das Bundesamt zu den 251 000 Tonnen vermeidbaren Lebensmittelabfällen aus dem Kehricht und den 48 000 Tonnen aus dem Grüngut auch noch 161 000 Tonnen aus weiteren Quellen wie Kanalisation und Hauskompost hinzu. Doch dazu liegen für die Schweiz überhaupt keine Zahlen vor. Das Bundesamt rechnete einfach die Resultate einer Studie aus England für die Schweiz hoch.
All das sind etwas gar viele Annahmen, Schätzungen und Hochrechnungen mit dem Resultat, den Konsumenten den Schwarzen Peter zuzuschieben.
Zum Vergleich: Die Lebensmittelindustrie produziert 950 000 Tonnen Lebensmittelabfall pro Jahr. Davon wären gemäss einer Studie aus dem Jahr 2016 der ZHAW 715 000 Tonnen vermeidbar. Im Detailhandel kommt es laut Bundesamt bei Coop, Migros, Aldi, Lidl, Denner, Spar und Volg im Jahr zu 100 000 Tonnen Lebensmittelabfall – davon sind 95 000 Tonnen vermeidbar. Der Lebensmittelabfall in Restaurants und Hotelküchen beträgt 290 000 Tonnen im Jahr – davon sind laut Bundesamt 200 000 vermeidbar. Von den durch die Schweizer Landwirtschaft für die Menschen produzierten Nahrungsmitteln enden fast 225 000 Tonnen im Abfall. Davon liessen sich gemäss Bundesamt etwa 90 Prozent oder 200 000 Tonnen jährlich vermeiden.