Die Anspannung steht den Anwesenden ins Gesicht geschrieben. Im Vorzimmer des Kreisgerichts Rheintal in Altstätten SG sitzen sich zwei Ärzte gegenüber und schauen zur Decke, als suchten sie eine geheime Inschrift. Daneben wartet eine junge Praxisassistentin mit ihrer Anwältin: Sie sucht den Blick der Mediziner – doch diese wollen ihr nicht in die Augen schauen.
Zuerst ergreift die Anwältin der klagenden Praxisassistentin das Wort und schildert den drei Richtern die Ereignisse aus ihrer Sicht. Ihre Klientin habe in einer St. Galler Arztpraxis gearbeitet. Deren Chef habe die Praxis im Juni 2018 an einen jungen Arzt verkauft, weil er keinen Nachfolger finden konnte. Nach dem Verkauf kündigte der ehemalige Praxisbesitzer allen Mitarbeitern. Sein Nachfolger begründet das vor Gericht so: «Ich traf mit ihm die Abmachung, dass ich die Praxis ohne Personal erwerbe.»
Während der dreimonatigen Kündigungsfrist teilte die Assistentin dem neuen Besitzer mit, dass sie schwanger sei. Zu diesem Zeitpunkt war die Praxis bereits an ihn übergegangen. Der junge Arzt wollte die Assistentin nach den drei Monaten aber nicht mehr weiterbeschäftigen.
Nichts von Schwangerschaft gewusst
Er sieht nun seinen Traum gefährdet. Denn die Assistentin verlangt von ihm vor Gericht nachträglich 31 000 Franken Lohn und über 3000 Franken Kinderzulagen. Ihre Anwältin konkretisiert die Lage aus juristischer Sicht und zitiert aus dem Obligationenrecht: «Wird eine Frau während der Kündigungsfrist schwanger, verlängert sich ihr Arbeitsverhältnis um 16 Wochen nach der Geburt.» Für den jungen Arzt bedeute das, «dass er die Frau nach der Übernahme hätte weiterbeschäftigen müssen», sagt die Anwältin. Doch das habe er verweigert.
Der Beklagte fällt der Anwältin ins Wort und sagt, dass er beim Kauf der Praxis nichts von einer Schwangerschaft gewusst habe. «Im Vertrag ist festgehalten, dass ich kein Personal übernehme. Ich wurde beim Verkauf hintergangen. Der frühere Besitzer sagte mit keinem Wort, dass eine Mitarbeiterin schwanger ist.»
Auch dieser ist zum Prozess erschienen. Er beteuert, nichts von einer Schwangerschaft gewusst zu haben. Der Vorsitzende ruft zwei Zeuginnen auf, um herauszufinden, ob das tatsächlich stimmt. Eine weitere Praxisassistentin und eine Ärztin, die in der Praxis gearbeitet hatten, sagen aus, dass sie lange nichts von der Schwangerschaft gewusst hätten und der Chef das auch nicht wissen konnte. «Die Klägerin wusste erst selbst nicht, dass sie schwanger war», sagt die Ärztin.
Der eingeklagte junge Arzt will vom Richter wissen, ob denn der Übernahmevertrag nicht gelte. «Nein. Der Buchstabe des Gesetzes gilt», antwortet der Gerichtsvorsitzende. Übertrage ein Arbeitgeber seinen Betrieb oder einen Betriebsteil, dann gingen auch die bestehenden Arbeitsverhältnisse an den Käufer über. Diese Bestimmung sei zwingend und könne durch keinen Vertrag abgeändert werden. Er verstehe zwar, dass der Beklagte das als ungerecht empfinde, schliesst der Richter. «Aber Ihre Unkenntnis der Gesetzeslage darf nicht zum Nachteil der Arbeitnehmerin werden.»
Vier Wochen später liegt das schriftliche Urteil vor: Der Arzt, der die Praxis übernommen hat, muss der Klägerin 31 077 Franken ausstehenden Lohn sowie 3200 Franken Kinderzulagen zahlen. Zudem muss er 6900 Franken an die Anwaltskosten der Klägerin und Verfahrenskosten von knapp 3300 Franken zahlen.
Kündigung: In diesen drei Fällen sind Angestellte davor geschützt
Das Gesetz zählt mehrere zeitlich befristete Kündigungsverbote auf. Während dieser Sperrfristen dürfen Arbeitgeber ihren Angestellten nicht kündigen. Tun sie es dennoch, sind die Kündigungen ungültig. Unter folgenden Bedingungen ist eine Kündigung unzulässig:
- Während der Schwangerschaft und in den ersten 16 Wochen nach der Niederkunft der Angestellten.
- Während einer Krankheit oder eines Unfalls: Im ersten Dienstjahr während 30 Tagen, ab dem zweiten bis zum fünften Dienstjahr während 90 Tagen, danach während 180 Tagen.
- Vier Wochen vor bis vier Wochen nach einem länger als elf Tage dauernden Militär-, Zivil- oder Zivilschutzdienst. Kündingungen in dieser Frist sind ungültig.