Herbert Gsell trainierte im Fitnesscenter an einer Kraftmaschine. Plötzlich spürte er einen starken Schmerz im Schultergelenk. Das passierte im vergangenen Oktober. Die Untersuchung im Kantonsspital Winterthur zeigte, dass eine Sehne im Schultergelenk gerissen war. «Ich kann die Schulter noch gut bewegen. Doch seit dem Unfall habe ich Schmerzen», sagt der 72-Jährige aus Seuzach ZH. «Deshalb schlafe ich manchmal schlecht.»
Fachleute sprechen bei solchen Unfällen von einer Verletzung der Rotatorenmanschette. Senioren passiert das oft: bei Stürzen, beim Sport, bei Autounfällen oder beim Heben einer schweren Last. Die Rotatorenmanschette besteht aus Sehnen und Muskeln, die das Schultergelenk stabilisieren.
Der Vorteil einer Operation ist nur gering
Viele Chirurgen raten, gerissene Sehnen zu nähen. Doch der Nutzen der Operationen ist unklar. Orthopäde Niklaus F. Friederich vom Universitätsspital Basel sagt: «Es gibt leider nur wenige gute Studien.» Eine Übersichtsstudie des Forschernetzwerks Cochrane zeigte vor zwei Jahren: Den operierten Patienten geht es ein Jahr nach dem Eingriff nicht besser als Patienten, die nur mit Physiotherapie behandelt wurden. Dazu kommt: Die Operation ist teuer. Sie kostet rund 12 000 Franken – die Physiotherapie nur rund 2000 Franken.
Umstritten ist auch, ob die Operation langfristig einen Nutzen hat. Eine kleine Studie mit rund 100 norwegischen Patienten im Durchschnittsalter von 60 Jahren bescheinigt ihr einen kleinen Vorteil gegenüber der konservativen Therapie. Die Studie erschien vor zwei Jahren im Fachblatt «The Journal of Bone and Joint Surgery». Zehn Jahre nach der Operation waren sieben von zehn Patienten mit dem Resultat zufrieden, mit den Ergebnissen der Physiotherapie aber nur vier von zehn Patienten («Gesundheitstipp» 9/2019).
Operation nur, wenn Gymnastik- und Kraftübungen nicht helfen
Der Winterthurer Luzi Dubs, Facharzt für Orthopädische Chirurgie, empfiehlt die Operation, wenn die Sehnen der Rotatorenmanschette so stark verletzt sind, dass der Patient den Arm nicht mehr auf Kopfhöhe bewegen kann: «Dann sollte man nicht allzu lange warten.» In allen anderen Fällen rät Dubs, die Muskeln während einigen Wochen oder Monaten mit Gymnastik und Kraftübungen zu trainieren. Wenn klar wird, dass dadurch keine Fortschritte erzielt werden, könne man eine Operation ins Auge fassen.
Herbert Gsell konnte sich bisher nicht zu einer Operation entschliessen. «Ein Nachbar riet mir davon ab», sagt er. «Er meinte, nachher müsste ich die Schulter sechs bis acht Wochen lang mit einem Gestell ruhigstellen. Anschliessend würde es noch ein weiteres halbes Jahr dauern, bis die Schulter wieder voll belastbar sei.» Diese Aussicht schreckt Herbert Gsell ab.
Auf Anraten seines Arztes trainiert er weiterhin im Fitnesscenter. «Der Doktor sagte mir, ich solle einfach aufhören, wenn die Schulter zu schmerzen beginnt.»
Bundesgericht: «Unfall kann keinen Sehnenriss bewirken»
Umstritten ist nicht nur die Frage, ob man sich nach einer Schulterverletzung operieren lassen soll, sondern auch, wer die Operation zahlt. Die Unfallversicherungen weigern sich oft, den Eingriff zu begleichen. Sie sind der Meinung, Sehnenrisse in der Schulter seien meist die Folge von Krankheit oder Abnützung. Nur selten sei ein Unfall die Ursache.
Das Bundesgericht stützt nun die Position der Versicherungen. Im Herbst 2019 wies es die Beschwerde von Daniel Gschwind aus Bättwil SO gegen die Suva ab. Drei Jahre zuvor war der 56-Jährige von einer Leiter gestürzt, als er im Garten einen Baum zurückschneiden wollte, und verletzte sich an der rechten Schulter. Ärzte des Universitätsspitals Basel stellten fest, dass ein Muskel und eine Sehne im Schultergelenk gerissen waren. Im März 2017 operierten sie die Schulter. Kurz darauf stellte die Suva ihre Leistungen rückwirkend ein. Begründung: Ein Unfall könne keinen Sehnenriss bewirken. Die Beschwerden des Patienten seien die Folge einer Abnützung des Schultergelenks.
Die Schweizerische Gesellschaft der Orthopäden bezeichnete das Urteil als «nicht nachvollziehbar». Ein Aufprall mit der Schulter könne durchaus zu einem Sehnenriss führen, das hätten Studien gezeigt.