Auf den Pulten der Schüler einer Zürcher Oberstufenklasse liegen Kabel, Klemmen, Batterien und Glühlämpchen. Damit sollen sie einen parallel geschalteten Stromkreis aufbauen. Die Jugendlichen sind mit Eifer dabei. Bald leuchten die ersten Lämpchen. Das Material stellt Siemens Schweiz gratis zur Verfügung. Ausgeliehen hat es Klassenlehrer Ramon F. über Kiknet.ch, inklusive Anleitungen Siemens-Logo.
Die «Discovery Box» von Siemens ist eines von rund 200 kostenlosen Unterrichtsmitteln auf Kiknet.ch, gesponsert von Unternehmen, Interessenverbänden und Stiftungen. Die Themen reichen von Natur und Technik über Ernährung und Gesundheit bis hin zu Politik und Gesellschaft. Abrufbar sind Arbeitsblätter, Übungen, Tests, Experimente und Lernspiele für alle Schulstufen – vom Kindergarten bis zur Sek. Das Interesse ist laut Kiknet gross: 22 500 Lehrer haben den Newsletter abonniert. Pro Monat werden 30 000 Unterrichtseinheiten heruntergeladen. Einige Beispiele:
Pommes-Chips-Hersteller Zweifel fordert die Schüler auf, ihren Geschmackssinn anhand seiner verschiedenen Chips-Sorten zu testen.
Bei den von der Valiant-Bank gesponserten Unterlagen zum Umgang mit Geld sollen die Schüler berechnen, wie gross das Sparpotenzial eines «Young Plus Konto» von Valiant gegenüber einem «normalen» Bankkonto ist.
Der Traubensaft-Hersteller Rimuss «versüsst» den Unterricht zum Thema Rebbau mit Rezepten für alkoholfreie Cocktails. Ein Degustations-Set mit Rimuss-Flaschen kann der Lehrer gratis bestellen.
Die von Nestlé gesponserten Unterrichtsmaterialien zu Schokolade sind mit dem Cailler-Logo versehen.
Heikel sind auch einige Angebote der Firma Lernetz, die ebenfalls Unterrichtsmaterialien produziert: Auf dem ABB-Lernmittel «Powerplanner» prangt prominent das Firmenlogo.
Reichhaltige Werbesendungen für die Lehrer
Einige Unternehmen und Verbände gehen direkt auf die Schulen zu: So gab Aldi Suisse letzten Herbst mehrere Hundert «Vitaminis-Powerpakete» gratis an Lehrer ab. Sie bestanden aus einer Obst- und Gemüseauswahl, Plüschfiguren und einem mit Aldi-Logo versehenen Lernheft zu den Themen gesunde Ernährung und Nachhaltigkeit. Eingepackt war das Ganze in Aldi-Tragtaschen. Aldi Suisse erklärt, Ziel sei die Aufklärung über gesunde und ausgewogene Ernährung.
Charta bisher nur von wenigen Unternehmen unterzeichnet
Laut Jürg Brühlmann, Leiter Pädagogik beim Lehrer-Dachverband Schweiz, gab es vor zehn Jahren erst vereinzelt Werbeaktivitäten von Privaten. Heute sei das «völlig anders». Probleme ortet der Lehrerverband bei Lernmaterial mit Unternehmenslogos, bei der unkontrollierten Weitergabe von Schülerdaten sowie «Gratis»-Angeboten mit späteren Zwängen und Folgekosten.
Als Reaktion erarbeitete der Verband zusammen mit Unternehmen, Stiftungen und Schulträgern eine Charta zum privaten Lehrmittelsponsoring. Ziel: Unternehmen sollen sich zurückhalten. Bis jetzt unterzeichneten erst wenige Unternehmen die Charta, darunter Samsung, Swisscom und die Post.
Fraglich ist, ob diese Charta über Werbung im Schulzimmer wirksame Grenzen setzt. Denn sie verlangt unter anderem Regelungen zum Einsatz von Firmenlogos, verbietet diese aber nicht.
Deshalb ist es möglich, dass die Firma Lernetz zu den Erstunterzeichnern der Charta gehört. Lernetz-Geschäftsleitungsmitglied Andreas Hieber rechtfertigt das ABB-Logo im Spiel «Powerplanner» damit, dass es «Teil der Spiellandschaft» sei.
Die Charta nicht unterzeichnet hat Kiknet.ch. Laut Leiter Reto Braun erfüllen die neusten Unterrichtsmaterialien die Kriterien der Charta, bei älteren gebe es noch Verbesserungspotenzial. Sobald sämtliche Themen überprüft sind und der Charta entsprechen, will Kiknet diese unterzeichnen.
Werbung im Schulzimmer: Lehrer entscheiden
Der Entscheid über die Zulassung von Lehrmitteln liegt in der Kompetenz der Kantone. Diese unterscheiden zwischen obligatorischen Lehrmitteln, die zwingend im Unterricht eingesetzt werden müssen, und solchen, die zumindest geprüft und empfohlen sind. Ergänzend können die Schulen auch privat finanzierte Unterrichtsmaterialien einsetzen, wie sie etwa Kiknet zur Verfügung stellt (siehe Oben).
Einige Kantone, Gemeinden oder Schulen haben Richtlinien zum Umgang mit Werbe-Lehrmitteln erarbeitet. In der Waadt sind sie verboten. In andern Kantonen entscheiden letztlich die Lehrpersonen über die Verwendung privat finanzierter Unterrichtsmaterialien.