Der 72-jährige Peter Horlacher aus Zürich war schwer depressiv. Medikamente halfen nichts. Deshalb stimmte er einer Behandlung mit der Elektrokrampftherapie zu. Dabei leiten Ärzte Stromschläge mit bis zu 480 Volt ins Gehirn. Der Strom löst einen epileptischen Anfall aus. Das soll Depressionen lindern oder sogar heilen. Vom Anfall spüren die Patienten nichts: Sie erhalten eine Narkose und Mittel gegen Muskelkrämpfe. Ein Mundschutz soll Zahnschäden vermeiden.
Peter Horlacher erhielt im März und April in der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zwölf Behandlungen mit Stromstössen. Jetzt gehe es ihm besser. Er sagt: «Wenn ich eine Depression habe, verkrieche ich mich und bleibe den ganzen Tag im Bett.» Das sei jetzt nicht mehr so: «Ich bin wieder gerne mit anderen Leuten zusammen.» Nebenwirkungen habe er keine. Nur ein Eckzahn fiel aus – trotz Mundschutz.
Positive Wirkung hält laut Kritikern nicht lange an
In den vergangenen Jahren führten immer mehr Kliniken solche Elektroschocktherapien wieder ein. Die psychiatrischen Dienste Aargau behandeln laut eigenen Angaben rund 50 Patienten pro Jahr damit, die psychiatrische Uniklinik Zürich rund 200. Psychiater wie Peter Bäurle aus Fruthwilen TG sehen die Elektrokrampftherapie als letzte Hoffnung bei schwer depressiven Patienten, bei denen alle anderen Methoden wie Psychotherapie und Medikamente nicht helfen.
Das erstaunt. Denn diese Therapie ist seit Jahrzehnten umstritten. Es ist unklar, warum epileptische Anfälle Depressionen lindern sollen. Der deutsche Psychiater und Hirnforscher Peter Ansari kritisiert, die positive Wirkung halte oft nur wenige Wochen an. Eine Studie mit 84 Patienten im «Journal of the American Medical Association» aus dem Jahr 2001 bestätigt das: Vier von fünf Patienten erleiden innert eines halben Jahres einen Rückfall.
Zudem hat die Methode schwere Nebenwirkungen. Eine Studie aus dem Jahr 2006 mit über 300 Patienten des New York State Psychiatric Institute zeigt: Jeder achte Patient litt ein halbes Jahr nach der Elektrokrampftherapie an Gedächtnisstörungen. Der Basler Psychiater Piet Westdijk rät von der Therapie ab. Die Methode sei nur ein «Ausdruck der Hilflosigkeit der Ärzte» – ähnlich, wie wenn jemand auf ein Fernsehgerät schlage, das nicht mehr funktioniert.
Psychotherapie bringt langfristig am meisten
Schwere Depressionen sind schwierig zu behandeln. Für viele Psychiater gelten Antidepressiva als bestes Mittel (siehe Tabelle im PDF). Doch ihr Nutzen ist beschränkt. Zudem haben sie starke Nebenwirkungen. Statt Antidepressiva empfiehlt Ansari eine Psychotherapie. Sie sei langfristig erfolgreicher. Bei leichten Depressionen sollte man Antidepressiva nicht einsetzen. Das sagen die Leitlinien der Schweizer Psychiater. Präparate mit Johanniskraut helfen bei leichten und mittelschweren Depressionen und sind gut verträglich. Auch Sport hilft bei leichten Depressionen.
Zur Kritik der Fachleute sagt Matthias Hilpert, Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Aargau, Rückfälle könne man mit einer sogenannten Erhaltungstherapie verhindern. Dazu gehören weitere Elektrokrampftherapien in grösseren zeitlichen Abständen und Antidepressiva. Die Elektrokrampftherapie sei sehr sicher für die Patienten. Erich Seifritz, Klinikdirektor an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, sagt, Depressionen hätten oft einen wiederkehrenden Verlauf. Auch bei der Behandlung mit Psychotherapie oder Medikamenten seien Rückfälle nicht auszuschliessen. Gedächtnisstörungen würden sich in der Regel nach einer gewissen Zeit wieder zurückbilden. Auch schwere Depressionen an sich könnten Gedächtnisstörungen verursachen.