Ausstellungsstrasse 15, mitten in der Stadt Zürich. Wer hier künftig an einem Freitag nach 9 Uhr einen Brief einwirft, muss wissen, dass dieser am Samstag nicht ankommen wird. Selbst wenn er als A-Post-Brief frankiert ist. Der Brief wird auch nicht am Montag ankommen. Sondern erst am Dienstag. Also vier Tage später. Denn übers Wochenende leert die Post diesen Briefkasten nicht mehr.
Die Ausstellungsstrasse ist kein Einzelfall. Die Post startet Ende Mai landesweit einen beispiellosen Kahlschlag. Klammheimlich und ohne ihre Besitzer – die Schweizer Bevölkerung – über den Abbau zu informieren.
saldo-Recherchen zeigen: Von den verbliebenen 14 414 Briefkästen werden sonntags nur noch 290 geleert (bisher 1724). 46 stehen im Kanton Zürich (bisher 571), noch ganze sieben Briefkästen im Kanton Genf (bisher 163). Nach 17 Uhr gibt es sonntags in der Schweiz keinen einzigen Briefkasten mehr, der geleert wird.
Diesen Leistungsabbau vollzieht der Bundesbetrieb, obwohl er seit Jahren fette Gewinne schreibt, wie ein Blick in die Geschäftsberichte zeigt: Allein von 2017 bis 2020 wies die Post einen Konzerngewinn von 1364 Millionen Franken aus. Selbst im Coronajahr 2020 realisierte sie 178 Millionen Franken Gewinn – 50 Millionen davon lieferte sie dem Bund als Dividende ab. Und im ersten Quartal des laufenden Jahres steigerte sie den Gewinn gegenüber 2020 von 84 auf 91 Millionen.
Ländliche Gebiete trifft es noch härter. In den Kantonen Jura, Nidwalden, Uri, Glarus und Thurgau leert die Post an Sonntagen nur noch je einen Briefkasten. Der Briefkasten im Thurgau befindet sich in Weinfelden – im Hauptort Frauenfeld gibts keinen mehr. Im Kanton Obwalden wird es keinen einzigen Briefkasten mehr geben, der sonntags geleert wird. Wer in Lungern wohnt, muss 33 Kilometer nach Stans NW oder 32 Kilometer nach Interlaken BE fahren, wenn er am Sonntag A-Post aufgeben will.
Der Abbau betrifft auch die Werktage. Das zeigt sich am Briefkasten an der Ausstellungsstrasse 15 in Zürich. Heute leert ihn die Post werktags um 18.30 Uhr. Berufstätige konnten bisher ihre Korrespondenz nach Arbeitsschluss einwerfen und darauf vertrauen, dass A-Post-Briefe anderntags ankommen. Künftig leert die Post den Briefkasten morgens um 9 Uhr. Was später eingeworfen wird, kommt bestenfalls zwei Tage später an.
Landesweit wird die Post werktags nach 9 Uhr nur noch gut die Hälfte aller Briefkästen leeren (siehe Tabelle im PDF). Nach 18 Uhr sind es gerade noch 438 (bisher 1048). Diese Briefkästen sind geografisch schlecht verteilt. Im ganzen Kanton Bern werden unter der Woche gerade mal noch zwölf Briefkästen nach 19 Uhr geleert. Elf davon befinden sich in der Stadt Bern – und zwar alle am Bahnhof.
Grosse Vororte und Quartiere sind ebenfalls betroffen
Hart trifft es auch grosse Quartiere und Vororte. In Muttenz BL erfolgt die Leerung im Durchschnitt vier Stunden früher als heute, bei manchen Briefkästen sogar neun Stunden früher. In der Länggasse, dem Berner Uniquartier, leben gegen 20 000 Menschen. Nach 16 Uhr wird noch ein Briefkasten geleert (bisher 17).
Darf die Post das überhaupt? Ja, sie darf. Denn das Postgesetz ist zahnlos. Es schreibt nur vor, dass die Post «öffentliche Briefeinwürfe in ausreichender Zahl, mindestens aber einen pro Ortschaft» aufstellt. Doch schon jetzt fehlt in 131 Ortschaften ein Briefkasten. Und wie häufig die Post die Briefkästen leeren muss und um welche Zeit – dazu steht nichts im Gesetz.
Die Post begründet den Abbau mit der Briefmenge: «Sie ist seit 2002 um rund einen Drittel zurückgegangen.» Deshalb habe die Post zwei Möglichkeiten: «Die Anzahl der Briefkästen zu reduzieren oder die Leerungszeiten anzupassen.» Die Post habe sich für die Änderung der Leerungszeiten entschieden, um «den Menschen in der Schweiz kurze Wege zu bieten».
Das erwähnte Beispiel von Lungern beweist aber das Gegenteil. Weiter schreibt die Post, künftig könnten die Briefträger die gelben Briefkästen «gleich auf der Tour leeren». Das spare zusätzliche Fahrten.
Übrigens: Die Postcom, die Aufsichtsbehörde über die Post, erfuhr erst kürzlich von den Abbauplänen. Doch sie ist machtlos. Denn die «Leerungszeiten sind nicht vorgeschrieben». Trotzdem will die Postcom das Gespräch «mit der Post aufnehmen».
2009 äusserte sich der damalige Postregulator Marc Furrer gegenüber dem «K-Tipp» noch deutlich zum Abbau: «Es kann ja nicht sein, dass man das Auto nehmen muss, um zum Briefkasten zu gelangen», sagte er damals. Und: «Ich gehe davon aus, dass ein Brief am nächsten Tag ankommt, auch wenn ich ihn erst um 16 Uhr einwerfe.» Ab Ende Mai dürfen Postkunden nicht mehr davon ausgehen.