Die Aufgabe der SBB ist die Grundversorgung im Bereich des öffentlichen Verkehrs. Das ist sogar lukrativ: Mit dem Personenverkehr verdienten die SBB letztes Jahr 186 Millionen Franken (siehe Tabelle im PDF). Doch der Service public wird den Managern der Bahn immer weniger wichtig: Die grossen Profite locken im Immobiliengeschäft. Dort erwirtschafteten die SBB einen Gewinn von 435 Millionen Franken. Und wo Geld lockt, wird ausgebaut: Die Investitionen in den Personenverkehr sanken in den letzten Jahren – dafür stiegen sie bei den Immobilien. Im vergangenen Jahr betrugen sie im Personenverkehr noch 723 Millionen, im Immobiliensektor bereits 652 Millionen Franken («K-Tipp» 8/2018).
Grösser als die börsenkotierte Swiss Prime Site
Mehr noch: Mit Mieterträgen von 480 Millionen Franken sind die SBB hinter dem Versicherungskonzern Swiss Life zum zweitgrössten Immobilienkonzern in der Schweiz geworden, noch vor dem grössten börsenkotierten Immobilienverwalter Swiss Prime Site und dem Immobilienfonds Sima der UBS.
Möglich wurde dieser Weg von der Bahn zum Immobiliengiganten, weil die SBB ihr Tafelsilber zu Gold machen. Sie bauen bei Bahnhöfen und auf nicht mehr benötigten Arealen Shoppingcenter, Bürotürme und Wohnungen. Dabei können sie aus dem Vollen schöpfen: Total besitzen sie 820 Bahnhöfe, 3500 Gebäude und 3600 Grundstücke auf 94 Millionen Quadratmetern – eine Fläche so gross wie die Stadt Zürich. Zurzeit umfasst das Liegenschaftenportfolio der SBB 1600 Wohnungen. In den nächsten 20 Jahren wollen die Bundesbahnen 10 000 weitere erstellen.
5170 Franken Miete für eine 4½-Zimmer-Wohnung
Wer im Zug in den Hauptbahnhof Zürich einfährt, wähnt sich in der City von London: Bürokomplexe, Wohntürme, Hotelbauten. Auch bei den Preisen: Gemäss einem Inserat der Verit Immobilienverwaltung kostet eine 3 ½-Zimmer Neubauwohnung an der Europaallee auf 92 Quadratmetern brutto 3790 Franken im Monat. Für 4 ½-Zimmer und 120 Quadratmeter sind es 5170 Franken. Die gesamte Europaallee-Überbauung umfasst 78 000 Quadratmeter – so gross sind zehn Fussballplätze. Rund 400 Luxuswohnungen sind Teil des Gebäudekomplexes. Die SBB gehören zwar der Bevölkerung. Aber Normalverdiener haben wenig Chancen auf bezahlbaren Wohnraum.
Das stösst Niklaus Scherr seit langem auf. Der ehemalige Geschäftsleiter des Zürcher Mieterverbands und Politiker der Alternativen Liste stört sich an der Gewinnmaximierung des Service-public-Unternehmens SBB. Er weiss: «Nur wenn sich Bewohner und Politik gemeinsam wehren, lenken die SBB ein.»
Scherr nennt das Beispiel Neugasse in Zürich. Erst nach langen Verhandlungen zwischen der Stadt Zürich und den SBB hatten diese eingewilligt, dass günstigere Wohnungen entstehen sollen. Die Bürgerinitiative Verein Noigass hatte im März dieses Jahres die Volksinitiative «Eine Europaallee genügt – jetzt SBB-Areal Neugasse kaufen» mit 7000 Unterschriften eingereicht. Ziel: Die Stadt Zürich soll das Areal kaufen oder im Baurecht übernehmen, damit darauf zu 100 Prozent gemeinnützige Wohn- und Gewerbebauten realisiert werden können. Das lehnten die SBB ab. Immerhin: Sie sind nun bereit, die geplanten 375 Neugasse-Wohnungen zu einem Drittel gemeinnützig, zu einem Drittel mit limitierten Mieten und zu einem Drittel zu Marktmieten zu bauen.
Widerstand gibt es auch in Basel: Die Linke brachte im Frühjahr im Grossen Rat durch, dass es auf dem Lysbüchel-Areal (Überbauungsplan Volta Nord) 30 Prozent Wohnungen mit Kostenmiete geben muss. Wirtschaftskreise ergriffen das Referendum. Am 25. November stimmen die Bürger darüber ab, ob auf dem 16 Fussballplätze grossen Areal bis zu 3000 Menschen arbeiten und bis zu 1900 wohnen sollen. Und, ob mindestens ein Drittel der Wohnungen gemeinnützig sein muss.
Luxuslofts auf dem Luzerner Güterareal geplant
Ein eisiger Wind weht den SBB-Managern auch in Luzern entgegen: Auf dem Güterareal Rösslimatt beim Bahnhof ist ein «urbaner Hotspot» geplant – analog der Europaallee in Zürich. Unter anderem geht es um ein «Wohngebäude mit gediegenen und repräsentativen Einheiten». Dagegen kämpft die IG Stadtentwicklung. Statt Luxuslofts will sie bezahlbare Wohn- und Gewerberäume. Dieser Idee hat das Stadtparlament diesen Sommer eine Abfuhr erteilt.Nun prüft die IG eine Volksinitiative.
Eine Schlappe gab es für die SBB in der Westschweiz: In Vevey sagten die Stimmbürger vor anderthalb Jahren Nein zu einer Überbauung eines Güterareals für 130 Millionen Franken. Wachstumskritiker und Grüne wehrten sich gegen das Projekt, weil es unter anderem zu wenig bezahlbare Wohnungen vorsah.
Für Niklaus Scherr ist klar: «Wenn sich Bürgerinitiativen zusammen mit der lokalen Politik bei den SBB für ihre Anliegen wehren, bestehen Chancen, etwas zu erreichen.» Wichtig sei, in einem frühen Stadium aktiv zu werden: «Nur so kann die Bevölkerung verhindern, dass über die Zukunft von SBB-Arealen unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert wird.»
Dass die Bevölkerung mitreden kann, ist für ihn legitim: «Die SBB gehören dem Bund, also der ganzen Bevölkerung. Ihre Areale wurden vor 150 Jahren enteignet oder für wenig Geld erworben», sagt Scherr. Für eine ausgewogene Durchmischung brauche es in Städten bezahlbare Wohnungen für den Mittelstand und für geringe Einkommen statt immer höhere Renditen.
Die Liste der SBB-Bauprojekte
Die Zeitschrift Hochparterre (www.hochparterre.ch) publiziert in einem Sonderdruck eine Liste der Grundstückgeschäfte der SBB.
Sie umfasst über 100 seit 2010 realisierte und geplante Projekte: AG: Aarau, BS: Basel, BL: Liestal, BE: Bern, Biel, Ostermundingen, FR: Freiburg, GE: Genf, Lancy, LU: Luzern, NE: La Chaux-de-Fonds, Neuenburg, SG: Buchs, Rorschach, St. Gallen, Wil, SZ: Arth-Goldau, Brunnen, SO: Olten, TI: Balerna, Bellinzona, Chiasso, Locarno, Lugano, TG: Romanshorn, VD: Cully, Lausanne, Morges, Renens, VS: Brig, Martigny, Monthey, Sion, Visp, ZG: Risch, Zug, ZH: Erlenbach, Herrliberg/Meilen, Illnau-Effretikon, Küsnacht, Rüschlikon, Schlieren, Stäfa/Uerikon, Thalwil, Wetzikon, Winterthur, Zollikon, Zürich.