Fünf Kriterien hat der Bundesrat definiert. Sie sollen ihm in der aktuellen Coronasituation die Entscheidung über Lockerungs- oder Verschärfungsschritte erleichtern. Es sind dies:
- Anzahl positive Tests pro 100 000 Einwohner in den letzten 14 Tagen
- Belegung der Intensivbetten im Durchschnitt der letzten 15 Tage
- Spitaleinweisungen im Durchschnitt der letzten 7 Tage
- Todesfälle im Durchschnitt der letzten 7 Tage
- R-Wert
Doch was steckt hinter diesem R-Wert? Der Buchstabe R steht für das Wort Reproduktionszahl. Sie soll angeben, wie viele Personen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Liegt der R-Wert über 1, steigt die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Liegt der Wert unter 1, dann sinkt sie – vermutlich.
Ganze Reihe vager Annahmen sind Teil der Berechnung
Tanja Stadler ist Mathematikerin an der ETH Zürich. Sie berechnet den R-Wert, auf den sich der Bundesrat stützt. Stadler spricht nicht von einer Prognose, sondern lediglich von einer «berechneten Schätzung». In ihre Berechnungen lässt sie neben den Spitaleinweisungen und Todesfällen etwa auch die Resultate von positiven Tests einfliessen. Das Problem: Ein positives PCR-Testresultat zeigt nicht, ob jemand krank und ansteckend ist oder nur eine kleine Virusmenge oder sogar nur Bruchstücke von Viruserbmaterial aus einer früheren Infektion in sich trägt und damit nicht ansteckend ist («K-Tipp» 5/2021).
Hinzu kommt bei der Berechnung des R-Werts eine ganze Reihe von Annahmen: Wie viele Kontakte haben Angesteckte? Wie lange sind sie ansteckend? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei ihren Kontakten tatsächlich andere anstecken? Wie viele Leute sind immun? All diese Fragen lassen sich nicht präzis beantworten, die Annahmen sind entsprechend unsicher.
Ein weiteres Problem: Die Zahl der positiv Getesteten schwankt von Tag zu Tag. Am Wochenende ist sie niedriger, weil weniger getestet wird, am Mittwoch meist am höchsten. Diese Schwankungen werden bei der Berechnung des R-Werts so gut wie möglich geglättet. Zudem ist der R-Wert stets veraltet. Denn von der Ansteckung bis zu einem positiven Test dauert es ein paar Tage. Und bis das Bundesamt für Gesundheit im Besitz aller Zahlen ist, vergehen nochmals mehrere Tage. Deshalb bezieht sich der neuste R-Wert stets auf die Situation vor knapp zwei Wochen.
Bundesrat stützt sich auf Punkt- statt Bandbreitenwert
Tanja Stadler sagt selbst: «Unsere Schätzungen liefern nie einen präzisen Wert.» Deshalb publiziert die ETH neben dem sogenannten Punktschätzer auch eine Bandbreite. Sie lag am 30. März zwischen 0,83 und 1,09 (letzter verfügbarer Wert bei Redaktionsschluss). Liegt die Bandbreite «nicht vollständig unter 1 oder über 1», so Stadler, «können wir nicht mit statistischer Signifikanz sagen, ob wir uns in einer Phase des exponentiellen Wachstums befinden oder nicht».
Trotzdem stützt sich der Bundesrat nicht auf diese Bandbreite, sondern auf den Punktschätzer (0,96). Für weitere Lockerungsschritte sollte dieser Wert unter 1,0 liegen. Eine unsichere statistische Grundlage für einen politischen Entscheid, der für die Bevölkerung einschneidende Folgen hat.