Ruth U. aus Zürich kündigt ihrem Mieter die Wohnung, weil er die Miete nicht mehr bezahlt. Dieser schikaniert die Vermieterin und leitet umgehend eine Betreibung gegen Ruth U. ein. Er verlangt 100 000 Franken «Schadenersatz». Die Vermieterin befürchtet wegen der Betreibung Probleme mit ihrer Bank, über welche die Hypothek läuft. Mit einer Feststellungsklage könnte sich Ruth U. gegen die Schikanebetreibung ihres Mieters wehren. Das ist mit hohen Kosten und Risiken verbunden: Die Betriebene müsste die Gerichtskosten von gut 10 000 Franken vorschiessen. Gewinnt sie den Prozess, erhält sie das Geld nicht vom Gericht zurück, sondern müsste es beim gekündigten Mieter eintreiben. Ist er zahlungsunfähig, bleibt sie trotz gewonnenem Verfahren auf den Kosten sitzen. Ruth U. verzichtet deshalb auf eine Klage.
Seit Januar 2011 arbeiten alle Zivilgerichte in der Schweiz nach den gleichen Regeln. Seit der Vereinheitlichung der Zivilprozessordnung verlangen alle Kantone von den Klägern Kostenvorschüsse in der Höhe der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten. Neu ist auch die Bestimmung, dass der Kläger, wenn er den Prozess gewinnt, die Gerichtskosten beim Verlierer eintreiben muss. Das Inkassorisiko liegt damit vollständig beim Kläger.
saldo kritisierte diese neuen Prozesshürden von Anfang an (saldo 3/2008). Sie würden vor allem den Mittelstand und KMUs davon abhalten, ihr Recht auf dem Gerichtsweg durchzusetzen. Die Befürchtungen haben sich bestätigt. Das zeigen die Zahlen im Kanton Zürich. Dort gab es bis Ende 2010 keine Vorschusspflicht. Seither sind die Zivilprozesse (ohne Familienrecht) an den Bezirksgerichten von 1834 im Jahr 2010 auf 1093 im Jahr 2016 zurückgegangen – eine Abnahme von 40 Prozent. Noch drastischer ist der Rückgang in derselben Zeitspanne bei den Forderungen, welche die Arbeitsgerichte in Zürich und Winterthur beurteilten: Die Zahl sank von 1168 auf 353 – das sind 70 Prozent weniger (siehe Tabelle im PDF).
Bundesrat will den Kostenvorschuss halbieren
Der Bundesrat spricht in diesem Zusammenhang von einer «faktischen Zugangsschranke zum Gericht». Der ehemalige Zürcher Zivilrechtsprofessor Isaak Meier bezeichnete die Haftung der klägerischen Partei für die Prozesskosten als «dem Gerechtigkeitsgedanken widerstrebend und eines modernen Staates unwürdig».
Der Bundesrat schickte Anfang März eine Vorlage zur Änderung der Zivilprozessordnung in die Vernehmlassung. Darin schlägt er vor, die Prozesskostenvorschüsse zu halbieren. Zudem will er die Bestimmung streichen, wonach der obsiegende Kläger die Kosten bei der unterliegenden Partei einfordern muss. Das Inkassorisiko soll wieder der Staat tragen.
Mit diesen Erleichterungen will der Bundesrat erreichen, dass «künftig auch Personen, die nicht in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege kommen, ihre Ansprüche tatsächlich gerichtlich geltend machen können». Der ehemalige Schaffhauser Oberrichter und Titularprofessor Arnold Marti fordert in der Juristenzeitschrift plädoyer vom Bundesrat, dass für die Prozesskosten ein landesweiter Rahmentarif gelten soll. Die Unterschiede zwischen den kantonalen Gerichtskosten seien heute «enorm» und die Berechnung «intransparent». Das könne nicht mehr hingenommen werden.