Für Alexander Schaaf aus dem Kanton Thurgau war die Diagnose Prostatakrebs ein grosser Schock. «In meiner Familie hatte bisher niemand Krebs», sagt der 53-Jährige. «Deshalb rechnete ich überhaupt nicht damit.» Den Krebs fand man per Zufall: Seine Hautärztin machte vergangenes Jahr einen Bluttest, weil er Schuppenflechte hatte.
«Alle Werte waren schlecht», erinnert er sich. Nach einer Odyssee bei verschiedenen Ärzten stellte ein Urologe schliesslich die Diagnose Prostatakrebs. Zwei Monate später operierten ihn die Ärzte. Sie entfernten die ganze Prostata.
Wie Alexander Schaaf geht es vielen Männern: Bei Prostatakrebs raten Ärzte rasch zu einer Operation oder zu Bestrahlungen. Diese Therapien sollen den Tumor entfernen oder das Wachsen bremsen.
1600 Patienten während 15 Jahren in Langzeitstudie
Doch das ist oft der falsche Weg. Am besten wartet man erst einmal ab. Zu diesem Schluss kommt eine neue Langzeitstudie, die kürzlich im «New England Journal of Medicine» erschien.
Die Forscher der britischen Universität Oxford untersuchten rund 1600 Männer über einen Zeitraum von 15 Jahren. Die Männer waren zu Beginn der Studie zwischen 50 und 69 Jahre alt. Sie hatten nach einem PSA-Bluttest zur Früherkennung von Prostatakrebs die Diagnose erhalten: Krebs, der auf die Prostata begrenzt war.
Die Forscher teilten sie in drei Gruppen ein: Die Ärzte operierten eine Gruppe schon kurz nach der Diagnose, eine zweite Gruppe bestrahlten sie, die dritte erhielt zunächst keine Therapie. Die Ärzte behandelten diese Männer allenfalls später noch, wenn sich die Werte verschlechterten. Das war im Laufe der Jahre bei zwei von drei Männern der Fall.
Operieren oder Bestrahlen erhöhte Lebenserwartung nicht
Die Forscher fanden heraus: Eine frühe Therapie brachte keine Vorteile. Operation und Bestrahlungen verhinderten zwar eher das Streuen des Tumors in andere Körperteile. Aber die Männer lebten deshalb nicht länger: In jeder Gruppe starben etwa gleich viele Männer – insgesamt 350. Das heisst: Die meisten Patienten mit lokal begrenztem Prostatakrebs lebten auch 15 Jahre nach der Diagnose noch – egal ob sie sich sofort operieren oder bestrahlen liessen oder erst einmal abwarteten.
Der Wiler Hausarzt Etzel Gysling, Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «Die Studie bestätigt, dass ein früh entdeckter Prostatakrebs nicht sofort radikal behandelt werden muss.» Andere Experten raten ebenfalls dazu, zunächst abzuwarten. Die Fachzeitschrift «Gute Pillen – schlechte Pillen» schreibt: «Bei Prostatakrebs mit niedrigem Risiko ist es nicht nötig, schnell mit der Behandlung zu beginnen.» Es bleibe Zeit, mit dem Arzt die Vor- und Nachteile verschiedener Therapien in Ruhe anzuschauen.
Der Zürcher Hausarzt Thomas Walser sagt: «Ein Mann kann gut mit den meisten Prostatakrebsarten leben.» Und: «Je älter wir werden, umso langsamer wächst diese meist gutartig verlaufende Krebsform.»
Erektionsstörungen und Inkontinenz als Nebenwirkungen
Ein weiterer Grund fürs Abwarten: Operationen und Bestrahlungen können Nachteile mit sich bringen. Das zeigt eine weitere Studie. Auch sie erschien im «New England Journal of Medicine». So leiden früh behandelte Männer beispielsweise stärker unter Inkontinenz. Sie verlieren ungewollt Urin. Die Beschwerden halten zum Teil erstaunlich lange an. Zwölf Jahre nach der Operation musste jeder vierte Mann Inkontinenzbinden tragen. In der Gruppe ohne Eingriff litten nur halb so viele unter Inkontinenz. Bestrahlte Männer litten zudem eher unter dem unkontrollierten Verlust von Stuhl.
Zu den unangenehmen Nebenwirkungen der Operation gehören auch Erektionsstörungen. Sieben Jahre nach Studienbeginn konnte nur jeder Fünfte der operierten Männer problemlos eine Erektion haben. Bei den übrigen Männern war es jeder Dritte.
Auch Alexander Schaaf litt nach der Operation unter Inkontinenz und Erektionsproblemen. Er nahm vier Monate lang das Medikamt Tadalfil, welches die Durchblutung fördert. Inzwischen sei das nicht mehr nötig.
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