Rund 100 000 Patienten nehmen in der Schweiz regelmässig Präparate ein, welche die Blutgerinnung hemmen. Die Zahl stammt vom Krankenkassenverband Santésuisse. Die Blutverdünner sollen Herzinfarkte, Embolien und Thrombosen verhindern. Bisher verschrieben die Ärzte den meisten Patienten bewährte Präparate wie Marcoumar oder Sintrom.
In der Regel überwacht der Arzt dabei mehrere Tage lang die Wirkung des Medikaments mit Bluttests. So kann er die nötige Dosis ermitteln. Neu steigen viele Ärzte auf Präparate wie Pradaxa um. Seit Juli 2012 müssen die Krankenkassen diese neuen Mittel bezahlen. Ihre Hersteller werben damit, dass bei den neuen Blutgerinnern keine aufwendigen Bluttests wie bei Marcoumar mehr nötig seien.
Die Behandlung mit Pradaxa kostet laut Santésuisse Fr. 3.40 pro Tag. Marcoumar kostet täglich nur 10 bis 42 Rappen, Sintrom 19 bis 39 Rappen – Pradaxa ist also bis zu 90 Prozent teurer.
USA: Viele Klagen hängig wegen schweren Blutungen
Gleichzeitig häufen sich die Meldungen über unerwünschte Nebenwirkungen der neuen Präparate. In den USA sind laut der deutschen Zeitung «Handelsblatt» rund 2500 Klagen hängig wegen schweren Blutungen und Todesfällen im Zusammenhang mit Pradaxa.
Auch das Schweizerische Heilmittelinstitut Swiss-medic registrierte im letzten Jahr 26 Berichte über Nebenwirkungen. 2012 gingen 6 solche Meldungen ein. 18 Fälle betrafen Pradaxa-Konsumenten, die ins Spital mussten, 6 von ihnen starben.
Welche Rolle dabei Pradaxa spielte, ist laut Swissmedic ungeklärt. Die Aufsichtsbehörde findet laut eigenen Angaben keine Unterschiede bezüglich der Risiken zwischen älteren und neuen Blutgerinnungshemmern. Falls sich «neue Schlüsse ergeben», will die Behörde «entsprechende Massnahmen fordern».
Diese Zahlen überraschen nicht. Denn eine neue Studie aus den USA zeigt, dass auch bei Pradaxa-Patienten Bluttests nötig sind. Die Konzentration des Pradaxa-Wirkstoffs im Blut kann laut der Studie je nach Patient bis zu fünf Mal höher oder tiefer ausfallen. Eine niedrige Dosis im Blut erhöht die Gefahr von Schlaganfällen oder Embolien, eine hohe Dosis das Risiko schwerer Blutungen.
Vor kurzem veröffentlichte die US-Zeitung «New York Times» einen firmeninternen Mail-Verkehr des Pradaxa-Herstellers Boehringer Ingelheim. Daraus ging hervor, dass das Unternehmen die Entwicklung von Bluttests ins Auge gefasst hatte. Weil die Tests aber nicht zur Vermarktungsstrategie des Medikaments passten, verzichtete man darauf. Aus dem gleichen Grund erwog die Firma eine Zeitlang, die genannte US-Studie nicht zu publizieren.
Nur bei Unverträglichkeit ist ein Wechsel angebracht
Wolfgang Becker-Brüser, Chefredaktor des «Arznei-Telegramms», hält es für einen «Skandal, wie Firmeninteressen dem Anspruch der Patienten auf eine möglichst sichere Arzneimitteltherapie vorgezogen werden». Sein Rat: Ärzte sollten die neuen Präparate nur verschreiben, wenn Patienten die alten nicht vertragen.
Boehringer Ingelheim bestreitet, je «kommerzielle Überlegungen über die Patientensicherheit» gestellt zu haben. Die nun publizierten Daten seien den Behörden bereits bekannt gewesen. Diese hätten Pradaxa ohne Bluttestpflicht zugelassen.