Anwälte und ihre Klienten müssen sich auf die Post verlassen können. Bei Anwalt Rémy Wyssmann aus Oensingen SO funktionierte das lange gut. Seine Sekretärin brachte die Briefe abends an den Geschäftskundenschalter, eine Dienstleistung der Post für Kunden, die regelmässig viele Briefe und Pakete aufgeben. Der Schalter befand sich auf der Rückseite der Poststelle in Oensingen. Der Vorteil: Es gab keine Wartezeiten und die Geschäftskunden kamen den andern Kunden nicht in die Quere.
Das änderte sich jedoch im vergangenen Sommer. Die Post schloss den Geschäftskundenschalter. Als Ersatz funktionierte sie eine Garage hinter dem Postgebäude zu einem unbedienten Schalterraum um. Der Kunde deponiert dort in grauen Plastikboxen seine Post. Zugänglich ist der Raum mit einem Badge.
Was sich harmlos anhört, hat weitreichende Folgen. Gemäss der Nutzungsvereinbarung mit den Geschäftskunden kann die Post das Postgeheimnis «nicht absolut garantieren». Im Klartext: Die Post liegt offen da. Andere Geschäftskunden können die vertraulichen Briefe sehen oder sie sogar mitlaufen lassen. «Ich fiel aus allen Wollken», sagt Wyssmann.
Der Schalterraum ist leicht zugänglich
Ein Augenschein vor Ort zeigt, dass es ein Leichtes ist, sich Zutritt zum Schalterraum zu verschaffen. Bis sich das Garagentor schliesst, dauert es rund 40 Sekunden. Das reicht, um sich einzuschleichen. In den grauen Plastikboxen stapeln sich die Briefe, die obersten sind für jedermann sichtbar – etwa ein Brief ans Betreibungsamt. Einzige Sicherheitsmassnahme ist eine Überwachungskamera.
Unbedienter Schalter beruhe auf «gegenseitigem Vertrauen»
Konfrontiert mit der Kritik, schreibt die Post, die insgesamt 70 Geschäftskundenstellen seien ungeeignet für die Aufgabe von Sendungen mit sensiblem Inhalt. Wer die Unversehrtheit von Sendungen anderer Kunden nicht wahre, werde zur Rechenschaft gezogen. Der unbediente Schalter beruhe auf «gegenseitigem Vertrauen».
Undenkbar für Anwalt Wyssmann. Er zog die Konsequenzen und gab den Badge nach einer Woche wieder zurück. Nun muss seine Sekretärin in der Postfiliale eine Nummer ziehen und sich in die Reihe stellen – Wartezeit inklusive. Das ist kein Einzelfall. In Brugg AG und Wil SG wurden jüngst ebenfalls unbediente Schalter eingeführt.